Seite:Meyers b3 s0705.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 3

ein Fieber zu, das bald einen gefährlichen Charakter annahm und nach zehn Tagen (19. April 1824) seinem Leben ein Ende machte. Die Kunde von seinem Tode drang wie ein Donnerschlag durch die Welt; ganz Griechenland trauerte um ihn 21 Tage. Sein Herz wurde in einer silbernen Kapsel in einem ihm geweihten Mausoleum zu Missolunghi aufbewahrt, ging aber bei dem letzten Versuch der Besatzung, sich durchzuschlagen (22. April 1826), verloren. Seine Leiche führte Graf Pietro Gamba nach England, wo sie, da ihr die Geistlichkeit ein Begräbnis in der Westminsterabtei verweigerte, in der Dorfkirche von Hucknall bei Newstead Abbey beigesetzt wurde. Seine von Thorwaldsen 1817 in Rom gefertigte (sitzende) Statue befindet sich zu Cambridge (in der Bibliothek des Trinity College); andre Standbilder wurden ihm zu Missolunghi und 1881 zu London errichtet.

Byrons wunderbare Dichtungsweise, welche ihn neben Shakespeare als den größten Dichtergenius der englischen Litteratur erscheinen läßt, ist das Ergebnis einer widerspruchsvollen Begabung und eines widerspruchsvollen Zeitalters. Seine außerordentliche Begabung fand weder in England noch überhaupt in seinem Zeitalter entsprechende Aufgaben und stellte sich daher falsche, an deren Lösung er die größte Leidenschaft und das zarteste Gefühl, die sinnigste Detailarbeit und riesenhafte Gewalt setzte. Aber obschon ein Riese, blieb er doch vor der Unlösbarkeit seiner Probleme verzweifelnd stehen; der furchtbare Riß, den er in allem sittlichen Leben beobachtete, durchzog als Zerrissenheit sein eignes Wesen; getäuschte Hoffnungen steigerten sich zum Weltschmerz, zur Weltverachtung, zur Verzweiflung, welcher Stimmungen gewaltigster Dolmetsch er (Prometheus, Faust, Don Juan in Einem) und zugleich dichterisches Vorbild für das ganze Zeitalter ward. Zur Einheit und Harmonie der Weltanschauung und des dichterischen Schaffens sich durchzuarbeiten, vermochte er nicht, weil er niemals eine gewissenhafte Erziehung genossen hatte, weder von der Mutter, noch von den Menschen, noch von der Natur oder dem Glück oder dem Ruhm: er war dieser aller verzogenes Kind. Als Erzeugnisse einer titanenhaft ringenden großen Seele haben seine Werke dauernden Wert. Sie erschienen als „Poetical works“ London 1815, 6 Bde., u. öfter (auch in kontinentalen Nachdrucken); am vollständigsten, mit biographischen und kritischen Anmerkungen von verschiedenen Verfassern und mit Kupfern von William und Edward Finden, herausgegeben von Th. Moore, London 1832–33, 17 Bde.; sehr bequem und korrekt in einer Einbandausgabe bei Murray, das. 1850, zuletzt 1873 in 2 Bänden. Aus den deutschen Übersetzungen heben sich als die besten die von Böttger (7. Aufl., Leipz. 1861) und von Gildemeister (3. Aufl., Berl. 1877, 6 Bde.) hervor. „Childe Harold“ übersetzten unter andern auch Zedlitz (Stuttg. 1836) und Janert (Hildburgh. 1869); ausgewählte Dichtungen G. Pfizer (Stuttg. 1851) und Schäffer (Hildburgh. 1865 ff.); die Dramen Grüzmacher (das. 1870).

Vgl. Dallas, Recollections of Lord B. (Lond. 1824); C. Gordon, Life and genius of Lord B. (das. 1824); E. Brydges, Letters on the character etc. of Lord B. (das. 1824); Th. Medwin, Conversations of Lord B. (das. 1824); Marquis de Salvo, Lord B. en Italie et en Grèce, etc. (das. 1825); „Lord Byron’s private correspondence“ (das. 1824; deutsch, Stuttg. 1825); Gamba, Narrative of Lord Byron’s last journey to Greece (Lond. 1825); Parry, The last days of Lord B. (das. 1828); Leigh Hunt, Lord B. and some of his contemporaries (das. 1828); Millingen, Memoir on the affairs of Greece (das. 1831); Th. Moore, Letters and journals of B. with notices of his life (das. 1833, neue Ausg. 1874; deutsch von Böttger, Leipz. 1842, 3 Bde.); Kennedy, Conversations on religion with Lord B. (Lond. 1830); Lady Blessington, Conversations with Lord B. (das. 1834, neue Ausg. 1850); Trelawney, Recollections of the last days of B. (das. 1858); Gräfin Guiccioli, My recollections of Lord B. (engl. von Jerningham, das. 1869, 2 Bde.; sichtlich nicht zuverlässig). Vollständige Biographien des Dichters gaben Lake (Lond. 1827), John Galt (1837), Armstrong (1846), Eberty (2. Aufl., Leipz. 1879, 2 Bde.), Elze (2. Aufl., Berl. 1880; in engl. Übersetzung, Lond. 1872), Engel (Berl. 1876) und Nichol (Lond. 1879). Die autobiographischen Memoiren Byrons wurden vom Erben derselben, Thomas Moore, aus Familienrücksichten vernichtet. Gute Charakteristiken, soweit solche überhaupt Byrons Wesen zuläßt, haben Tuckerman in den „Charakterbildern englischer Dichter“ (deutsch, Marburg 1857), Macaulay in seinen „Essays“, Bd. 1, und v. Treitschke in den „Historischen und politischen Aufsätzen“ (4. Aufl., Leipz. 1871) gegeben.

Der Lordstitel Byrons ging auf seinen Vetter George Anson B., geb. 8. März 1789, über, der 1862 zum Admiral ernannt wurde und 1868 starb. Ihm folgte sein ältester Sohn, George Anson B., geb. 30. Juli 1818, und diesem, der 29. Nov. 1870 kinderlos starb, sein Neffe George Frederick William, der jetzige Lord Byron. – Byrons Gattin, Lady Anna Isabella (s. oben), geb. 17. Mai 1792 zu London, brachte den Rest ihres Lebens in Zurückgezogenheit mit Ausübung einer großartigen Wohlthätigkeit zu und starb 16. Mai 1860. Auf Grund vertraulicher Mitteilungen, welche Lady B. in ihrer letzten Lebenszeit mehreren ihrer Freunde gemacht haben sollte, trat die mit ins Geheimnis gezogene amerikanische Schriftstellerin Beecher-Stowe (s. Beecher 2) 1869 in „Macmillan’s Magazine“ mit Enthüllungen über die angeblich wirkliche Ursache der Byronschen Ehescheidung („The true story of Lady Byron’s life“) hervor, die ungeheures Aufsehen erregten. Danach hätte dieselbe in der Entdeckung der Lady B. ihren Grund gehabt, daß ihr Gemahl in einem blutschänderischen Umgang mit seiner verheirateten Halbschwester Augusta gestanden habe. Indessen erhoben sich sofort die gewichtigsten Stimmen gegen die Glaubwürdigkeit dieser mit allen Details gemachten Mitteilung. Nicht nur, daß grobe innere Widersprüche in der Geschichte der Mrs. Beecher-Stowe nachgewiesen wurden, man erbrachte von den verschiedensten Seiten her auch schlagende dokumentarische Gegenbeweise, so daß die völlige Grundlosigkeit der erhobenen Anklage sich bald als unzweifelhaft herausstellte. – Die einzige Tochter der Lady B. und des Dichters, Augusta Ada, geb. 10. Dez. 1815, war seit 1835 mit William, Graf von Lovelace, vermählt und ging der Mutter bereits 27. Nov. 1852 im Tod voraus. Sie hinterließ zwei Söhne, von denen der ältere, Byron Noel, Viscount Ockham, geb. 12. März 1836, nachdem er kurze Zeit in der Marine gedient und beim Tod seiner Großmutter, Lady B., auch die Baronie Wentworth geerbt hatte, das Leben eines Abenteurers und Sonderlings führte und als freiwilliger gemeiner Arbeiter auf einer Londoner Schiffswerfte schon 1. Sept. 1862 starb. Der zweite Sohn, Ralph Gordon Noel Milbanke, geb. 2. Juli 1839, folgte seinem Bruder bei dessen Tod als Lord Wentworth nach.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 3. Bibliographisches Institut, Leipzig 1886, Seite 705. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b3_s0705.jpg&oldid=- (Version vom 29.10.2022)