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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 4

des Lebens vergleichen, und so wird die immer entferntere Formenverwandtschaft der einzelnen höhern Gruppen verständlicher, als sie jemals war. Bei der Aufsuchung dieser Verwandtschaften ist vor allem die Gleichwertigkeit (Homologie) der Teile blutsverwandter Tiere maßgebend, und man darf sich nicht von bloßen, durch ähnliche Lebensverhältnisse und Mimikry, also durch Vorgänge, die man unter dem Namen der konvergenten Züchtung zusammenfaßt, erzeugten Analogien täuschen lassen. So ist die Ähnlichkeit der äußern Körpergestalt bei Regenwürmern, Blindwühlern u. Schlangen durch die gleiche Lebensweise und nicht durch Blutsverwandtschaft bedingt, und Schmarotzerpflanzen der verschiedensten Klassen nehmen eine gewisse Ähnlichkeit miteinander an, indem die Blätter sich zurückbilden und die Chlorophyllbildung unterbleibt. Hierbei bleibt vor allem die Entwickelungsgeschichte maßgebend, indem die Homologie der Bildungen früh hervortritt, während die durch konvergente Züchtung hervorgebrachten Analogien zweier Tiere meist erst ganz zuletzt hervortreten. Erschwert wird die Aneinanderreihung der zu einander gehörigen Formen dadurch, daß zahlreiche Zwischen- und Übergangsformen im Lauf der Zeiten ausgestorben sind, so daß wir im glücklichsten Fall hoffen dürfen, diese die Lücken des Systems ausfüllenden Formen im fossilen Zustand zu finden. Sehr viele solcher Lücken, die noch vorhanden waren, als Darwin seine diesbezügliche Ansicht vom natürlichen System aufstellte, sind inzwischen bereits ausgefüllt worden, so z. B. die tiefe Kluft, welche ehemals die Vögel von den übrigen Wirbeltieren trennte, durch die Auffindung der Archaeopteryx und der gezahnten Vögel.

Die Stärke und der Wert des D. beruht in der schon von Kant geforderten mechanischen Erklärung der organischen Natur, durch welche gezeigt werden soll, wie alle Organismen und ihr zweckmäßiger Bau im Lauf einer langen Entwickelung allmählich geworden sein können, also in dem Ersatz der vorher geplanten Zweckmäßigkeit durch die gewordene Zweckmäßigkeit, weil sich nur das unter den gegebenen Verhältnissen Zweckmäßigste erhalten konnte. Der hierin gegebenen Bekämpfung des teleologischen Prinzips verdankt der D. einerseits seine Bedeutung für die Philosophie, anderseits die vielfachen Angriffe von seiten der Theologen und teleologischen Naturforscher. Aber nicht weniger wichtig als die Erklärung des Zweckmäßigen ist die des Unzweckmäßigen und Bösen in der Natur, deren Dasein man sonst nur durch viele Winkelzüge, oder indem man sie einem bösen Prinzip zuschrieb, zu erklären wußte. Sie erklären sich aber sehr leicht, wenn wir bedenken, daß sich die durch die natürliche Auslese erlangte Zweckmäßigkeit immer nur auf das betreffende Wesen und seine Lebensweise selbst beziehen kann, also unter Umständen nicht ausschließen, ja eher dahin drängen wird, dasselbe den übrigen Lebewesen möglichst gefährlich zu machen. Das Raubtiergebiß, der Giftzahn der Schlangen, das Gift vieler Pflanzen sind solche Errungenschaften. Dadurch, daß er aus demselben Prinzip die relative Zweckmäßigkeit und Unzweckmäßigkeit, also z. B. auch die der rudimentären Organe, erklärte, wurde Darwin jener Newton der organischen Welt, den noch Kant erwartete. Eine besondere Lehre zur Erklärung unzweckmäßiger Bildungen (Dysteleologie) hat sich nach dieser Richtung ausgebildet.

Eine solche philosophische Bewegung mußte bald bedeutende Dimensionen annehmen und eine Menge wissenschaftlicher Gebiete in Mitleidenschaft ziehen. Ein festeres Gefüge empfing der D. zuerst durch das organisatorische Talent Häckels, welcher ihm in mehreren populären Schriften die Gestalt eines abgerundeten naturphilosophischen Systems gab. Während Darwin in seinem grundlegenden Werk mehrere erschaffene niedere Formen angenommen und den Menschen vorläufig außer Betracht gelassen, behandelte Häckel in seiner „Generellen Morphologie“ (1866) bereits alle Organismen von demselben Gesichtspunkt, indem er die niedersten Urwesen oder Protisten als durch freiwillige Entstehung (generatio aequivoca) hervorgegangen annahm und von ihnen, wie von einer gemeinsamen Wurzel, einerseits das Pflanzenreich und anderseits das Tierreich ableitete und das Menschengeschlecht als einen besonders weit entwickelten Zweig des letztern hinstellte. Infolge dieser genealogischen Betrachtungsweise der lebenden Natur wurde Häckel zum Entwerfen von sogen. Stammbäumen sowohl für die Gesamtheit als für die einzelnen Abteilungen veranlaßt, die zunächst nichts sein können und sein sollen als Forschungsprogramme oder Fragebogen, deren Bestätigung oder anderweite Ergänzung der Weiterforschung anheimgestellt wird. Ferner stützte er die Entwickelungstheorie durch den Hinweis auf die Entwickelung des Einzelwesens, weil sich hier oftmals der Parallelismus mit der Entwickelung der Klasse, Gattung und Art aufdrängt. Schon in den ersten Jahrzehnten unsers Jahrhunderts hatten die Embryologen auf diesen Parallelismus hingewiesen (s. Entwickelungsgeschichte), durch welchen man z. B. aus dem Auftreten der Kiemenspalten bei den Embryonen höherer Wirbeltiere auf die Abstammung derselben von Kiementieren geschlossen hatte. Durch Huxley, Fritz Müller und Häckel wurde der Nachweis geführt, daß die individuelle Entwickelungsgeschichte einer Art (Ontogenie) in vielen Fällen ein getreues Nachbild der Geschichte ihres Stammes (Phylogenie) sei, und als sogen. biogenetisches Grundgesetz (s. Entwickelungsgeschichte) von Häckel formuliert. Die Entwickelungsgeschichte wurde so zum Beweismittel der Darwinschen Theorie und konnte in gewissen Fällen sogar als Wegweiser zur Ermittelung der natürlichen Verwandtschaften und der Abstammung dienen. Eine solche Gelegenheit trat bei der Entdeckung Kowalewskys über die übereinstimmende Entwickelung der Seescheiden und des Lanzetttiers (Amphioxus) ein, durch welche zuerst eine Anknüpfung des Stammes der Wirbeltiere mit den niedern Tieren und speziell mit den Würmern angedeutet wurde. Bei den Larven verschiedener Seescheiden wurden nämlich Andeutungen der Chorda oder des Rückenstabes, eines embryonischen Organs der Wirbeltiere, entdeckt, die dort in der weitern Entwickelung durch Rückbildung wieder verschwinden (s. Entartung) und Häckel zur Aufstellung einer besondern ausgestorbenen Mittelklasse zwischen Wirbeltieren und Wirbellosen führten, die als Chordatiere, Chordonier oder Rückenstrangtiere bezeichnet wurden. Eine ähnliche Rekonstruktion versuchte Häckel bald danach auf eine gemeinsame Larvenform der meisten echten Tiere, der Darmlarve oder Gastrula, indem er eine ihr ähnliche selbständige Tierform, die Gastraea, als die gemeinsame Stammform aller eigentlichen Tiere bezeichnete, in seiner viel angefochtenen Gasträatheorie (s. Entwickelungsgeschichte). Das Studium der Entwickelungsgeschichte ist so zu einer sehr fruchtbaren Disziplin geworden, besonders in den Arbeiten von Häckel, Fritz Müller, Weismann, O. Schmidt, Balfour u. a.

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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 4. Bibliographisches Institut, Leipzig 1886, Seite 568. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b4_s0568.jpg&oldid=- (Version vom 22.11.2023)