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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 5

und es werden dann die Riegen öfters abgesondert von den Wohnhäusern gebaut. Auch bei den Wagen, die oft klein und niedrig sind, findet man jetzt einen Fortschritt, insofern die noch vor einigen Jahrzehnten im ausschließlichen Gebrauch befindlichen ganz hölzernen, der Nägel und des Eisenbeschlags entbehrenden Wagen heutzutage zu den vereinsamten Überbleibseln der Vergangenheit gehören. Beim Ackerbau ist das Dreifeldersystem vorherrschend, doch auch das Mehrfeldersystem nicht gerade selten. Ziemlich verbreitet ist daneben noch das sogen. „Küttisbrennen“, d. h. die Sitte, das gleichmäßig auf dem Acker verteilte und mit Rasen bedeckte gefällte Strauchwerk abzubrennen, um auf diese Weise dem Land höhere Ernten abzugewinnen. Im esthnischen Livland wird der Flachsbau mit Eifer betrieben. Im allgemeinen ist durch die liberale Gesetzgebung der letzten Jahrzehnte, eifrig gepflegten Schulunterricht (jeder erwachsene Esthe versteht mehr oder weniger gut zu lesen, während die gleichzeitige Kenntnis des Schreibens erst bei der jüngern Generation in Aufnahme kommt), eine sehr regsame Presse (es bestehen fünf sehr verbreitete Zeitungen in esthnischer Sprache) und durch den wachsenden Wohlstand ein im Vergleich zu den frühern Verhältnissen großer Aufschwung hervorgerufen worden. – Die E. haben, gleich den stammverwandten Kuren und Liven, seit den ältesten Zeiten die Küsten der Ostsee bewohnt und sind unter den Fenni des Tacitus mit begriffen. Weiteres über die Geschichte der E. s. Esthland. Vgl. v. Parrot, Entwickelung der Sprache, Abstammung etc., der Liwen, Lätten, Eesten etc. (Stuttg. 1828; neue Ausg., Berl. 1839); F. H. Müller, Der ugrische Volksstamm (das. 1837–39); Fr. Kruse, Urgeschichte des esthnischen Volksstammes (Mosk. 1846); O. Grube, Anthropologische Untersuchungen an E. (Dorp. 1878); Wiedemann, Aus dem innern und äußern Leben der E. (Petersb. 1876), und die „Verhandlungen der Gelehrten Esthnischen Gesellschaft zu Dorpat“ (1840 ff.).

Esther, pers. Name („Stern“) der zur Perserkönigin erhobenen Jüdin Hadasa („Myrte“), nach welcher das Buch E. im Alten Testament genannt ist. Sie war die Nichte und Pflegetochter des Juden Mardochai aus dem Stamm Benjamin und wurde wegen ihrer Schönheit Gemahlin des Königs Ahasverus, d. h. Xerxes. Als solcher gelang es ihr, den Anschlag des Ministers Haman auf die Existenz ihres Volkes zu vereiteln und nicht bloß zu erwirken, daß Haman gehenkt und Mardochai an seiner Stelle zum Minister ernannt, sondern auch den Juden Gelegenheit gegeben wurde, in einer großen Metzelei 75,000 Perser zu erwürgen. Die Unwahrscheinlichkeiten des ganzen Berichts sind so massenhaft und die Rachgier, welche die Phantasie des Verfassers leitet, so handgreiflich, daß schon Luther den stärksten Anstoß an dem Buch nahm, welches übrigens auch den Namen Gottes nicht nennt und bloß eine legendenhafte Erklärung der Entstehung des jüdischen Purimfestes darstellt. Seine Abfassung fällt in das Zeitalter der Ptolemäer und Seleukiden. In der Septuaginta und Vulgata finden sich noch verschiedene Ausschmückungen der alttestamentlichen Erzählung, welche Luther unter dem Namen „Stücke in E.“ größtenteils zusammenfaßte und den Apokryphen zugesellte. Vgl. Oppert, Commentaire du livre d’E. d’après la lecture des inscriptions perses (Par. 1864). Unter den dramatischen Dichtungen, welche die Geschichte der E. zum Gegenstand haben, stehen das berühmte Spätlingswerk Racines (1689) und Grillparzers unvollendetes Drama „E.“ (1845) obenan.

Esther, s. v. w. Osseter, s. Stör.

Esthland (nach der im Land üblichen Schreibweise Ehstland, neuerdings Estland, lat. Estonia, von den Esthen Wiroma, „Grenzland“, auch Eesti Maa oder Meie Maa, „unser Land“, von den Letten Iggaunu Semme, „Land der Vertriebenen“, genannt), die nördlichste der drei baltischen oder Ostseeprovinzen Rußlands (s. Karte „Livland, E. etc.“), liegt mit Einschluß der dazu gehörigen Inseln (Dagö, Worms, Nuckö etc.) zwischen 58°19′ u. 59°49′ nördl. Br. und zwischen 22°2′ und 28°12′ östl. L. v. Gr., grenzt im N. an den Finnischen Meerbusen, im O. an das Gouvernement St. Petersburg (durch die Narowa von demselben geschieden), im S. an Livland und den Peipussee und im W. an die Ostsee und umfaßt einen Flächenraum von 20,247 qkm (367,7 QM.). Die Ausdehnung der Wassergrenzen beträgt 838 km. E. bildet einen sich von W. nach O. hinziehenden flachen, etwas gewellten Landrücken, der sich von der Meeresküste im W. allmählich erhebt, eine durchschnittliche Höhe von 60–120 m erreicht und nach O. wieder zur Narowa hinabsinkt. Nach N. senkt sich das Land von der Mitte mehr terrassenförmig und fällt dann, bisweilen schroff, zur Küste ab. Nach S. gegen Livland ist die Senkung eine sehr allmähliche. Der höchste Punkt Esthlands ist im NO. der Emmo Mäggi („Mutterberg“, 154 m). Die flachen, muldenförmigen Vertiefungen der großen Flußbetten verleihen dem Land mehrfach ein etwas gewelltes Ansehen. Ein ziemlich ansehnlicher Teil der Oberfläche ist mit Wald und Buschwerk bedeckt, oder es finden sich ausgedehnte Moräste, die häufig auch mit Wald bestanden sind. Zahlreiche Flüsse und Bäche durchfließen das Land; sie haben meist einen trägen Lauf und sumpfige, schilfige Ufer. Selten schneiden die Flüsse tiefere Betten ein und bilden dann schöne, steile, bisweilen belaubte Felswände. Nur der Grenzfluß Narowa ist vom Peipussee bis zu seinem schönen Fall in der Nähe von Narwa schiffbar. Bemerkenswerte Flüsse oder Bäche sind: der Kasargenfluß, der Kegelsche und Fallsche Bach mit einem Wasserfall von 6 m Höhe unweit seiner Mündung, der Brigittenbach, der Jeglechtsche oder Jaggowalsche Bach mit einem schönen, 7 m hohen Wasserfall unweit seiner Mündung und der Witna oder Loxa, die alle mit Ausnahme des ersten, welcher von O. nach W. in die Ostsee geht, in nördlicher Richtung in den Finnischen Meerbusen strömen. Eine große Anzahl kleiner Landseen (man zählt deren über 200) ist über den ganzen esthländischen Landrücken verteilt, sie finden sich öfters inmitten der Moore. Eine Unzahl größerer und kleinerer erratischer Granitblöcke ist über das ganze Land hingestreut. In geognostischer Beziehung bestehen die Küsten des Finnischen Meerbusens hauptsächlich aus einem dichten Kalkstein, der sich durch die vielen wohlerhaltenen Trilobiten- und Orthoceratitenversteinerungen, welche er enthält, auszeichnet und in ziemlich horizontalen Lagen von 10 bis 20 m Mächtigkeit vorkommt. Er liegt auf einem feinkörnigen Sandstein, der sich an der Küste bis höchstens 40 m über das Meer erhebt und zu seinem Liegenden wiederum einen gräulichgrünen Thon hat, der zunächst über dem Meeresspiegel erscheint. Der Sandstein ist versteinerungsleer, jedoch findet sich in ihm Bernstein eingeschlossen. Die untern Schichten des Kalksteins enthalten häufig kleine Körner von Grünerde, wie der Grünstein der Kreideformation, und werden von dem unter ihnen liegenden Sandstein durch dünne Lagen von Grünerde, durch bituminösen Thonschiefer, Eisenkies und durch Muschelfragmente getrennt, welche Zwischenschichten im ganzen

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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 5. Bibliographisches Institut, Leipzig 1886, Seite 870. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b5_s0870.jpg&oldid=- (Version vom 26.9.2022)