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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 7

und 1616 Fabio Colonna von neuem die Wahrheit entdeckt hatten, konnte der um die Entwickelung der G. sonst hochverdiente Engländer Lister (1638–1712) wiederum die organische Natur der Versteinerungen leugnen. Selbst nachdem die Existenz vorweltlicher Tiere und Pflanzen allmählich allgemein angenommen war, hinderte das ängstliche Festhalten an den biblischen Überlieferungen einen gesunden Ausbau der Versteinerungskunde. Scheuchzer, der 1726 das kaum metergroße Skelett eines Molches (jetzt Andrias Scheuchzeri genannt, vgl. Tafel „Tertiärformation“) als Homo diluvii testis beschrieb, ist das populärste Beispiel des Festhaltens an der Sintflut, welche alles Vorsintflutliche vernichtet und Raum für eine ganz neue Welt geschaffen habe. Doch ist schon aus der zweiten Hälfte des 17. und der ersten Hälfte des 18. Jahrh. eine Mehrzahl höchst verdienstlicher Werke zu verzeichnen. In England lieferten Woodward (1665–1728), Lhwyd (1660–1709), Hooke (1635–1703) u. a. gute paläontologische Arbeiten; der oben citierte Lister empfahl schon die Anfertigung geologischer Karten; in des Dänen Steno (1631–86) Werk „De solido intra solidum naturaliter contento“ (Flor. 1669) sind klare Beobachtungen über die Reihenfolge der Schichten enthalten; in Leibniz’ „Protogäa“ (Mainz 1671) finden sich Andeutungen einer an die Laplace-Kantsche Theorie erinnernde Erdbildungshypothese. In Deutschland gaben Knorr (1705–61) und Walch (1725–78) eine „Sammlung von Merkwürdigkeiten der Natur“, später „Naturgeschichte der Versteinerungen“, heraus, während Lehmann in seinem „Versuch einer Geschichte von Flözgebürgen“ (1756) und Füchsel durch seine an die Thüringer Formationen geknüpften Studien (welche auch zum Entwerfen der ersten geologischen Karte eines Teils von Deutschland führten) die Grundsätze der Stratigraphie entwickelten. In Frankreich und der Schweiz wirkten besonders Buffon und Saussure anregend, ersterer durch seine „Époques de la nature“ (1780), in welchen er für die Erde eine Entstehung aus feurig-flüssigem Zustand (mit einer Abkühlungszeit von 34,000 Jahren) annahm; letzterer durch seine „Alpenreisen“ (1779–96), in denen er unter anderm die ersten guten Beobachtungen über die Gletscher veröffentlichte.

Als Gründer einer wissenschaftlichen G. wird gewöhnlich Werner (1750–1817), der berühmte Lehrer an der Freiberger Bergakademie, bezeichnet und mit Recht, hat er doch zuerst ein völlig durchgearbeitetes System aufgestellt und diesem System bei seinen Schülern das größte Ansehen zu verschaffen gewußt. Werner teilte die sämtlichen Formationen ausschließlich in neptunische und vulkanische; die letztern, denen er nur eine ganz untergeordnete Rolle und zwar nur in der Jetztzeit zuschrieb, leitete er von brennenden Kohlenflözen, sich zersetzenden Schwefelverbindungen etc. her; die erstern waren ihm die wesentlichen Teile der Erdrinde. Er teilte sie wieder in Urgebirge, zu denen der bei sehr hohem Wasserstand gebildete Granit, der bei niedrigerm entstandene Gneis, Glimmerschiefer u. dgl. nebst „Urkalk“ und Serpentin, endlich Thonschiefer gehören, auf welche dann bei wieder höherm Ansteigen des Wassers die Porphyre, Grünsteine, jüngern Serpentine etc. folgen. Auf die Periode des Urgebirges, hinsichtlich dessen Werner die Unklarheit wohl mit den meisten spätern Geologen teilen dürfte, folgt das Übergangsgebirge, welches man jetzt als Silur und Devon unterscheidet. Die „ruhige“ Ablagerung, welche die kristallinischen Gesteine hervorgebracht haben sollte, kombiniert sich nach Werner in dieser Zeit, in welcher die ersten lebenden Wesen auftraten, mit einer mechanisch zerstörenden Wirkung des Wassers, welche Veranlassung zur Entstehung der Grauwackengesteine (nebst Thonschiefer, Kieselschiefer, Kalkstein) und gleichzeitiger Grünsteine, Trappgesteine gibt. Stürmischer ist wiederum die Zeit des Flözgebirges, das zum Teil in eine erste Ablagerungsperiode (Steinkohlenformation, Rotliegendes und Zechstein nebst Kupferschiefer, Gips und Steinsalz), zum Teil nach einer Minderung des Wasserstandes in eine zweite Ablagerungsepoche (Buntsandstein, Muschelkalk, Quadersandstein und Kreide) fällt. Eine Entblößung und neue Wasserbedeckung, mehr partiell, brachte das Braunkohlengebirge, die sogen. Flöztrappe, Basalt, Dolerit, Phonolith; alsdann erst folgte die Zeit des aufgeschwemmten Landes als letzte Sedimentbildung. Das Auffallendste an Werners System ist die Ausdehnung der „neptunischen“ Bildungsweise auf die altvulkanischen Gesteine. Die Reaktion gegen eine Ansicht, welche nur aus beschränktem Beobachtungsmaterial entsprungen war, konnte nicht ausbleiben. Voigt (1793) eröffnete die Opposition mit der Behauptung, der Basalt müsse auf feurig-flüssigem Weg entstanden sein, und bald stand dem Wernerschen Neptunismus eine „plutonistische“ Schule gegenüber, welche sich im wesentlichen zu Huttons 1796 (in kürzerm Auszug schon 1788) erschienener „Theorie der Erde“ bekannte und mit dieser eine Entstehung unsers Planeten aus feurigem Fluß annahm und dem „Plutonismus“ und „Vulkanismus“, der „Reaktion des noch flüssigen Erdinnern gegen die schon erstarrte Kruste“, eine mannigfaltige Rolle in Bildung und Umbildung der Gesteine und Erdkonturen zusprach. Werners größter Schüler, Leopold v. Buch (1774–1853), sagte sich nach Studium der erloschenen Vulkane in Zentralfrankreich vom Neptunismus los und stand bald an der Spitze der gegensätzlichen Schule. Vielleicht niemals und in keiner Wissenschaft ist der Einfluß einer einzelnen Persönlichkeit ein so großer und nachhaltiger gewesen wie derjenige Buchs in der ersten Hälfte unsers Jahrhunderts auf die weitere Entwickelung der G. Weite Reisen, scharfe Beobachtungsgabe, glänzendes Darstellungsvermögen, alles gab Buch eine unbestrittene Führerschaft unter seinen Zeitgenossen, von ihm nicht selten bis zur Unduldsamkeit gegen andre Meinungen ausgebeutet. A. v. Humboldt, Laplace, die Geologen Naumann, Freiesleben, Elie de Beaumont u. v. a., die Zoologen und Paläontologen Cuvier, Lamarck und Brongniart, alle stimmten den Ideen Buchs mehr oder weniger unbedingt bei oder waren selbständig zu ähnlichen Anschauungen gekommen. Das Resultat war ein plutonistisches System, welches der innern Erdwärme und den Ausbrüchen des flüssigen Erdinnern die mannigfachsten Rollen zuschrieb. Die Umbildung des Kalks zu Dolomit durch Magnesiadämpfe, die Zurückführung aller Hebungen und Senkungen auf vulkanische Kräfte, die momentane Entstehung sogen. Erhebungskrater, die Bildung der Gebirge durch zentrale Eruptionsmassen, das zeitweise Eintreten gewaltiger Katastrophen, welche epochenartig geologische Formationen zum Abschluß bringen und jede Vermittelung zwischen zwei aufeinander folgenden Perioden verhindern, das dürften die extremsten Ansichten sein, welche die Zeit der unbestrittenen Herrschaft des Plutonismus zu Tage gefördert hat. Langsam, Schritt für Schritt, sind diese extravaganten Auswüchse einer in Beschaffung von Beobachtungsmaterial äußerst fruchtbaren Schule abgestoßen worden, und sieht man sich nach den Mitteln

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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 7. Bibliographisches Institut, Leipzig 1887, Seite 128. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b7_s0128.jpg&oldid=- (Version vom 23.5.2022)