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kaum ein Hungernder an einer jüdischen Türe vorbei, ohne daß ihm nicht wenigstens eine Schale Tee gereicht wird, das einzige, was sie noch verschenken können. Einstweilen träumt jeder von dem märchenhaften Überfluß, der hereinströmen wird, wenn die Festung erst offen ist, und wer noch 100 Zigaretten hat — eine seltene Kostbarkeit und nur mehr bei den Offizieren zu finden — tauscht dagegen einen letzten alten Hahn für seine Küche ein.

Przemysl, den 12. Februar 1915,
     am 97. Tag der 2. Belagerung.

Gestern wurde, besonders im Laufe des Vormittags, das Geschützfeuer sehr lebhaft. Die Russen beschossen eines unserer Werke an der Südfront mit ihrem schwersten Kaliber. Man erwartet in der Festung noch einen Sturm der Russen, bevor sie sich zurückziehen. Sie sollen sich auch in den letzten Tagen an einigen Punkten unserer Befestigungslinie wieder genähert haben.

Hier erwartet man sie mit Ruhe. Man zuckt mit den Achseln und sagt: „Wenn sie noch einmal Tausende opfern wollen!“ Wir sind jetzt noch stärker bestückt als während der ersten Belagerung. In den drei Wochen zwischen der 1. und 2. Belagerung hat man viel neue Geschütze und Munition hereingeschafft.

Man erzählt sich hier, daß Przemysl in der russischen Armee sprichwörtlich geworden sei und daß sie sagen, der gute Geist sei mit der Festung und daher sei sie uneinnehmbar.

Ja, sie haben recht, es ist ein guter Geist, der mit Przemysl ist! Der gute Geist unserer gerechten Sache, der uns stark und fest macht und mit dem Gott ist!

Manchmal dringt von draußen durch Radiogramme, oder durch Flieger ein Wort herein. „An die Helden

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Ilka von Michaelsburg: Im belagerten Przemysl. C. F. Amelang, Leipzig 1915, Seite 119. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:MichaelsburgImBelagertenPrzemysl.pdf/129&oldid=- (Version vom 1.8.2018)