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Rumänien, im Mai 1915, unterwegs.

Endlich erlöst uns der nächste Abend. Ein furchtbarer, sintflutartiger Wolkenbruch. Ein kleiner rumänischer Bahnhof, in dem der Zug wartet, der uns hinaus in die Freiheit führen soll. Das ist unser Abschied von Rußland.

Wir suchen einen Wagen und wollen einsteigen. Doch unser Träger grinst und schüttelt hartnäckig den Kopf! Dann läuft er durch den Wolkenbruch zu einem uralten Kasten dritter Klasse und wirft unser Gepäck hinein. „Evakuierte“ steht groß auf dem Wagen. Wir hören ringsum liebe, deutsche Laute, wir sind in einen Evakuiertentransport geraten, der verbannte Deutsche und einige Österreicherinnen nach der Heimat bringt. Es sind 24 „Verbannte“, von denen fast alle schwere Zeiten hinter sich haben.

Und wie sich der Zug in Bewegung setzt und über die Brücke rollt, wo neben den russischen Farben die Farben Rumäniens flattern, da packt es jeden von diesen 24 in seiner Weise. Die junge Frau neben uns, mit den drei Kindern, wirft die gefalteten Hände in die Höhe, dann küßt sie unter Lachen und Weinen ihre Kinder.

In der Ecke ein alter Herr. Eine elegante Erscheinung, ein großzügiges, geistvolles Gesicht, mit dem müden Ausdruck eines seelisch Schwerleidenden, starrt schweigend in den Regenguß hinaus, wortlos, nur die zusammengekrampfte Hand am Fensterrahmen bebt leise. Sein Nachbar, ein gemütlicher, beweglicher alter Herr, hat feine, intelligente Züge, das jugendliche Feuer einer Künstlernatur. Er schlägt laut klatschend in die Hände: „Kinners, Kinners, nu können sie mir alle den Buckel raufsteigen!“

Ich spreche nicht. Aber meine Augen stehen voll Tränen.

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Ilka von Michaelsburg: Im belagerten Przemysl. C. F. Amelang, Leipzig 1915, Seite 184. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:MichaelsburgImBelagertenPrzemysl.pdf/194&oldid=- (Version vom 1.8.2018)