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jeder sein letztes Hemd geben müsse, um die Soldaten zu kleiden und die Heimatlosen. Daß jetzt nicht die Zeit ist, Geschäfte zu machen und Kapital aus der Not zu schlagen. Weh dem, der einkauft um 30 Kreuzer, um zu verkaufen um 70!

Wie wir kamen, wurde gerade ein hebräischer Gesang angestimmt, und es war ein verzweifeltes Schluchzen in den Bänken der Frauen.

Und die gleiche wilde, unerlöste Klage war in ihren Sängen, wie in der Klage des Jeremias.


Przemysl, den 20.November 1914,
     am 14. Tag der 2. Belagerung.

Die große Nachricht von einem Sieg der Unseren bei Jaroslau und Rzeszow hat noch immer keine offzielle Bestätigung gefunden.

Dafür kam aber die Freudenbotschaft eines Sieges der Deutschen bei Plock und der Gefangennahme von 30 000 Russen. Damit scheint die Offensive in Russisch-Polen eröffnet zu sein.

Und gestern kam als schönes Geburtstagsgeschenk für mich noch die Nachricht von unserem großen Sieg in Serbien, der Einnahme von Valjevo und des nahe bevorstehenden Falles von Belgrad! Hurra!

Gestern flatterten unkontrollierbare Gerüchte auf, daß die Franzosen im Begriff seien, Friedensverhandlungen mit Deutschland einzuleiten. Aber niemand weiß Bestimmtes.

Przemysl liegt still und tief eingeschneit. Es hat die ganze Nacht geschneit und schneit noch fort. Das Gärtchen und die hohen Tannen vor unseren Fenstern sind dicht mit Schnee beladen, und die Türme der Franziskaner-Kirche haben scharfe, weiße Konturen.

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Ilka von Michaelsburg: Im belagerten Przemysl. C. F. Amelang, Leipzig 1915, Seite 78. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:MichaelsburgImBelagertenPrzemysl.pdf/88&oldid=- (Version vom 1.8.2018)