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Eduard Mörike: Gesammelte Schriften. 2. Band: Erzählungen

Blitz schießt der Gedanke in mir auf: „Halt! wie, wenn heut Sankt Gorgon wäre? Mechanisch nehm’ ich es vom Boden; indem tritt der Kellner herein, grüßt, fragt, ob ich noch zu trinken verlange? Ich nicke stumm, gedankenlos, und sehe mich dabei nach einem Wandkalender um.

„Was ist gefällig? neuer? alter? Drei und achtziger? vier und achtziger?“

„Versteht sich, einen neuen!“ rief ich mit Ungeduld und meinte den Kalender; „den heurigen, nur schnell! nur her damit!“

Der Kellner lächelte hochweise: „Wir haben hier zu Land noch keinen heurigen!“

„Wie? was? um diese Zeit? verflucht! so bringt in’s Kukuks Namen einen alten! Das ist mir aber doch, bei’m Donner, eine Wirthschaft, wo man – ei daß dich, da hängt ja doch einer!“ Ich riß den Kalender vom Nagel, ich blätterte mit bebender Hand – richtig! Gorgonii, der 9. September! Und daß ich jetzt nicht wie ein Narr vor Freuden in der Stube herumtanzte, den Gläserschrank zusammenschlug, den Kellner umarmte, war Alles. Von nun an wußte ich, was für ein herrliches Kleinod mein Schatzkästlein sei. Stand nicht ein Verslein drin, ein Reimlein, ach, mehr werth als alle Reime in der Welt? (der siebente war’s in der Zugab für sondere Fäll):

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Eduard Mörike: Gesammelte Schriften. 2. Band: Erzählungen. G. J. Göschen, Stuttgart 1878, Seite 12. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Moerike_Schriften_2_(1878)_012.jpg&oldid=- (Version vom 8.7.2017)