Seite:Moerike Schriften 2 (1878) 072.jpg

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Kaum war sie weg, so kam Frau Lichtlein zur Thüre herein, die Leichenfrau nämlich, ein frommes und reinliches Weib, das im Rufe geheimer Wissenschaft stand. Auf ihre Frage: wer soeben da gewesen? erzählte ich’s ihr. Sie seufzte still und sagte, in dreien Tagen würd’ ich auch krank sein, doch soll ich mich nicht fürchten, es würde gut bei mir vorübergehn. Sie hatte mittlerweile das Mädchen untersucht, und ach, wie klopfte mir das Herz, da sie mit einigem Verwundern für sich sagte: „Ei ja! ei ja! noch warm, noch warm! Laß sehn, mein Sohn, wir machen eine Probe.“ Sie zog zwei kleine Aepfel aus der Tasche, weiß wie das schönste Wachs, ganz ungefärbt und klar, daß man die schwarzen Kern’ beinah durchschimmern sah. Sie legte der Todten in jede Hand einen und steckte sie unter die Decke. Dann nahm sie ganz gelassen auf einem Stuhle Platz, befragte mich über verschiedene Dinge: ob ich auch fleißig lerne und dergleichen; sie sagte auch, ich müßte Goldschmied werden. Nach einer Weile stand sie auf: „Nun laß uns nach den Aepfeln sehn, ob sie nicht Bäcklein kriegen, ob sich der Gift hineinziehn will.“ – Ach, lieber Gott! weit weit gefehlt! kein Tüpfchen Roth, kein Striemchen war daran. Frau Lichtlein schüttelte den Kopf, ich brach in lautes Weinen aus. Sie aber sprach mir zu: „Sei wacker, mein Söhnchen,

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Mörike: Gesammelte Schriften. 2. Band: Erzählungen. G. J. Göschen, Stuttgart 1878, Seite 72. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Moerike_Schriften_2_(1878)_072.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)