Seite:Moerike Schriften 2 (1878) 082.jpg

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Er sah mich im Vorbeigehn scharf so von der Seite an, sprach mit den Andern ein paar gütige Worte, ließ abermals den Blick auf mich herübergleiten und war schon im Begriff die Leute zu entlassen. In diesem Augenblick gewahrte ich den jungen Mann, der sich am Morgen mit so vielem Eifer meiner Person hatte versichern wollen und den man mir als Aennchens Bräutigam bezeichnet – Aber wo nehm’ ich Worte her, um mein Erstaunen, mein Entsetzen auszudrücken, als ich bei’m zweiten Blick meinen Juden in ihm erkannte! – – Unfühlend, wo ich stand, und des Respects vergessend, den ich der Gegenwart des gnädigen Herrn schuldig war, warf ich mich auf den Burschen mit einer Wuth, mit einer Schnelligkeit, wie kaum ein Tiger sich auf seine sichere Beute stürzt. „Vermaledeiter Dieb! so hab’ ich dich!“ und packt’ ihn kräftig bei der Kehle. Eine Todtenstille entstand. Entsetzen hielt das Gesindel gebannt. Der alte Herr sah unwillig verlegen zu dem Auftritt, und einem allgemeinen Murren folgte unmittelbar der wildeste Tumult. Man wollte mir mit Gewalt meinen Feind entreißen, von dessen Gurgel meine Hand nicht loszubringen war, und hätten sie mich in Stücke zerrissen. Die kreischende Stimme des Freiherrn allein war im Stande, mich zur Vernunft zurückzubringen. In Kurzem ward es ruhig.

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Eduard Mörike: Gesammelte Schriften. 2. Band: Erzählungen. G. J. Göschen, Stuttgart 1878, Seite 82. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Moerike_Schriften_2_(1878)_082.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)