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Eduard Mörike: Das Stuttgarter Hutzelmännlein. Aus: Gesammelte Schriften. 2. Band: Erzählungen

denn sichtlich stand es nicht seit jüngst, und Schnee und Regen waren darüber ergangen. Es hieß:

Ich habe Kreuz146 und Leiden,
Das schreib’ ich mit der Kreiden,
Und wer kein Kreuz und Leiden hat,
Der wische meinen Reimen ab.

Der Seppe ruhte lang mit starren Blicken auf der Schrift, er dachte: Dem, welcher dieß geschrieben, war der Muth so weit herunter als wie dir, kann sein noch weiter – tröst’ ihn Gott! – Nachdenksam kehrte er sich zur Kapelle, legte Ranzen, Hut und Stock, wie sich gebührte, haußen ab und ging, seine Andacht zu halten, hinein; nach deren Verrichtung er sich bei den Namen und Sprüchen verweilte, so von allerhand Volk, von frommen Pilgrimen und müßigen Betern, an den Wänden umher mit Rothstein oder mit dem Messer angeschrieben waren. In einem Eck ganz hinten stund zu lesen dieser Reim:

Bitt, Wandrer, für mich,
So bittst du für dich.
Mit Schmerzen ich büße,
In Thränen ich fließe.
Das Erbe der Armen,
Das heißet Erbarmen.

Recht wie ein Blitzstrahl zückten die Worte in ihn, und war ihm eben, als flehet’ es ihn aus den Zeilen

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Mörike: Das Stuttgarter Hutzelmännlein. Aus: Gesammelte Schriften. 2. Band: Erzählungen. Stuttgart: G. J. Göschen. 1878, Seite 223. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Moerike_Schriften_2_(1878)_223.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)