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Eduard Mörike: Gesammelte Schriften. 2. Band: Erzählungen

Bettler, der für Hungersterben sich an dem Eigenthum des reichen Nachbars vergreift, – o freilich ja, der ist Euch verfallen; doch wenn ein Bösewicht in seinem Uebermuth ein edles himmlisches Gemüth, nachdem er es durch jeden Schwur an sich gefesselt, am Ende hintergeht, mit kaltem Blut mißhandelt und schmachvoll in den Boden tritt, das geht Euch wenig, geht Euch gar nichts an. Wohl denn! wenn Niemand deine Seufzer hörte, du meine arme arme Anne, so habe doch ich sie vernommen! an deinem Bett stand ich und nahm den letzten Hauch von der verwelkten Lippe, du kennst mein Herz, dir ist vielleicht schon offenbar, was ich vor Menschen auf Ewig verschweige, – du kannst, du wirst der Hand nicht fluchen, die sich verleiten ließ, deine beleidigte Seele durch Blut versöhnen zu wollen. Aber leben darf ich nicht bleiben, das fühl’ ich wohl, das ist sehr billig, und“ – dabei wandte sie sich mit stehender Gebärde auf’s Neue an die Richter – „und ist Barmherzigkeit bei Euch, so darf ich hoffen, man werde mein Urtheil nicht lange verzögern, man werde mich um nichts weiter befragen.“

Der Inquirent wußte nicht, was er hier denken sollte. Es war der seltsamste Fall, der ihm je vorgekommen war. Doch blickte schon so viel aus Allem hervor, daß das Mädchen, wenn sie auch selbst nicht

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Eduard Mörike: Gesammelte Schriften. 2. Band: Erzählungen. G. J. Göschen, Stuttgart 1878, Seite 288. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Moerike_Schriften_2_(1878)_288.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)