Seite:Musik (Artikel für das Pariser Tageblatt).pdf/25

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Seelen auf Wanderung


Ein berühmter Komponist war gestorben. Seine Seele, immer noch tatenlustig, wollte nicht sofort zurückkehren in die himmlische Werkstatt, um sich neu einschmelzen zu lassen. Sie beschloss, auf eigenes Risiko eine andere Unterkunft zu suchen. Als sie noch stand und überlegte, wohin, sah sie eine Dirigentenseele kommen, die gleichfalls soeben stellungslos geworden war. Sie gerieten ins Gespräch und bald stellte sich heraus, dass auch die zweite einem kleinen Privatbummel nicht abgeneigt war.

Wohin aber? In Neugeborne zu fahren, hätte zu lange gedauert. Sie kamen überein, sich zwei bereits aktive Berufskollegen zu wählen, das gäbe eine schöne Steigerung und kostete nicht soviel Zeit.

Also geschah es. Aber in der Eile verwechselten sie die Leute. Die Komponistenseele fuhr in einen sehr berühmten Dirigenten, die Dirigentenseele verirrte sich völlig und geriet statt in den ersten Stock in den Keller zu einem Schuster, der bis dahin brav Stiefel gesohlt hatte.

„Frau, ich weiss nicht – mir ist so eigentümlich zumute“, sagte der Schuster nach kurzer Zeit, „ich glaube, ich muss mal…“

„Was musst Du mal, Mann?“

„Ich muss mal dirigieren.“ Dabei schlug er mit seiner Ahle die Schusterkugel entzwei.

„Mann, Du bist verrückt geworden!“, rief die Frau erschrocken. „Du hast zuviele Berichte gelesen über den Herrn Dirigierrat im ersten Stock.“

„Lass mich, Frau, das verstehst Du nicht.“

Er ging vor den Spiegel und machte dauernd Verbeugungen, wie wenn ihm applaudiert würde.

Die Frau rief den Doktor. Der kam, besah den Patienten und schüttelte den Kopf. Dann schrieb er das Rezept, darauf stand „Sanatorium Kraft durch Freude“.

Der Mann ging zu Kraft durch Freude, Sondersturm Kunst.

„Wie heissen Sie?“

„Gustav Havemann.“

„Was sind Sie?“

„Ich bin ein Schuster. Aber ich muss dirigieren.“ Dabei schlug er ein Hakenkreuz im Fünfachteltakt.

„Aber lieber Mann, wenn Sie doch Schuster sind!“

„War nicht Jakob Böhme ein Schuster, war nicht Hans Sachs, war nicht der Hauptmann von Köpenick ein Schuster? Alles Grosse ist aus der Schusterei gekommen. Lassen Sie mich, meine Herren, der Drang, der Drang…“

„Der ist wirklich nicht zu halten. So einen könnten wir brauchen für unser Landesorchester…“

Da hielt es die Seele nicht länger, sie entsetzte sich und floh. Am nämlichen Treffpunkt kam die andere ebenfalls angeflogen. Die erste erzählte ihr Schuster-Abenteuer. „Da hast Du noch Glück gehabt“, sagte die Komponistenseele. „Deiner hat wenigstens etwas getan. Meiner war zum Verzweifeln. Erst hat er jeden Tag alle Zeitungen mit seinen Dirigierkritiken gelesen. Wenn irgendwo etwas nicht ganz Freundliches stand, musste seine Sekretärin sofort Beschwerdebriefe schreiben und drohen, dass er nicht wiederkäme, wenn man diesen Kritiker nicht zur Ruhe brächte. Dann hat er immerfort komponiert und komponiert, aber niemand sollte davon wissen. Natürlich wussten es doch alle. Aber er dachte, ich könnte seinen Dirigentenruhm schädigen. Ganze Stösse von Notenpapier hat er vollgeschrieben, Sinfonien, Kammermusik, Konzerte. Wie gern hätte er es aufgeführt, und stets kam die Angst dazwischen. Freilich, so dastehen und Ekstase schwelgen, das behagte ihm. Aber im Grunde war er ein unsicherer Kerl, der vor Eitelkeit platzte, dabei eigentlich an nichts richtig glaubte, nicht einmal an sich selbst. Da bin ich schliesslich abgeflogen. Nun jammert er wieder, dass ihm die Inspiration abhanden gekommen ist. Aber lieber lasse ich mich einschmelzen, als so etwas mitmachen. Hoffentlich avancieren wir diesmal bei unserer Neugeburt. Ich möchte gern einmal in den Staatsbetrieb kommen, der soll jetzt so anregend sein!“

Bei diesen Gesprächen waren sie bis zu der Wegkreuzung gelangt, wo der Engel der Schmelzstelle stand. Er sah sie streng an. „Wo kommt Ihr her?“

Die Seelen erblassten, er schien alles zu wissen.

„Ihr habt Euch unwürdig erwiesen, Menschenseelen zu sein. Ich entziehe Euch das eigene Leben und verbanne Euch in die Propagandagruppe, Abteilung Wachsplatten.“

Die Seelen stürzten sich auf die Knie und weinten heftig. Wachsplatte zu sein war die härteste Strafe für eine lebendige Seele.

Aber der Engel blieb ungerührt. Mit der linken Hand griff er nach oben, wo der Verschlusskasten eines mächtigen Kranes[1] hing und zog ihn herunter, mit der Rechten packte er beide Seelen zugleich bei den Haaren und warf sie in das Behältnis, das sofort hochschnellte.

„Wachsplatten, Propaganda – Plappermühle, hundert Jahre Göbbels-Reden wiederholen!“

Man hörte noch einen grässlichen Schrei. Im nächsten Augenblick schon leerte sich das Behältnis über einem glühenden Schmelzofen. Nach ein paar Minuten fielen unten zwei kleine braune Hampelmänner heraus, die sofort stramm marschierten und unausgesetzt riefen: „Wir Nationalsozialisten haben… Wir Nationalsozialisten haben… Wir haben… wir haben…“

„Das Euch dieser und jener“, brummte der Engel. „Beinah hätt’ ich mich vergessen und geflucht. Wollt Ihr mir etwa hier die Ruhe stören? Marsch in Euer Gehäus.“

Er nahm zwei Platten, quetschte die Kerlchen darauf und winkte dann einem Engelsboy. „Morgen hat des Teufels Grossmutter Geburtstag, und wir halten auf gute Nachbarschaft. Bring’ ihr die beiden Platten mit schöner Empfehlung von mir. Wenn sie wieder ihren melancholischen Tag hat, soll sie die Dinger reden lassen, da kann sie stundenlang herzlich lachen. Aber – Acht geben! Nicht auffressen lassen. Das Mundwerk ist grösser noch als selbst der Höllenrachen.“



  1. Vorlage: Krahnes
Empfohlene Zitierweise:
Paul Bekker: Musik (Artikel für das Pariser Tageblatt). , Paris 1934–1937, Seite 25. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Musik_(Artikel_f%C3%BCr_das_Pariser_Tageblatt).pdf/25&oldid=- (Version vom 1.8.2018)