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Die Mäusestadt


Die Mäuse hielten eines Tages einen grossen Rat und beschlossen, eine eigene Stadt zu gründen. Nicht der Katzen wegen, sagten sie, die seien noch nicht so schlimm und man könne sich vor ihnen in acht nehmen. Wie aber die Menschen mit den Mäusen umgingen, sie nutzlos quälten und umbrächten, das liess sich überhaupt nicht schildern. Mit diesem Geschlecht wollten die Mäuse nichts mehr zu tun haben und also auswandern.

Die Stadt wurde gebaut, unter der Erde natürlich, da es anders nicht sicher war. Im übrigen entsprach sie völlig den Menschenstädten. Die Mäuse waren klug und hatten gut beobachtet, es gab unter ihnen Handwerker aller Art, dazu Gelehrte, Techniker, genau wie bei den Menschen. So bauten die Mäuse nach neuestem Muster, mit Elektrizität, W. C. und allem sonstigen Komfort. Sogar eine Untergrundbahn hatten sie, und auch hier war die Lüftung ebenso schlecht wie bei den Menschen. Nur Flugzeuge konnten sie bei der unterirdischen Anlage des Ganzen nicht gebrauchen, aber Schutzübungen gegen Gasangriffe bei Verdunkelung der Stadt machten sie natürlich ebenfalls.

So war alles in bester Ordnung. Die Mäuse fühlten sich sehr glücklich und bedauerten nur, nicht schon früher auf diese gute Idee gekommen zu sein. Wie vielen ihrer Vorfahren hätten sie ein Leben in ständiger Angst und ein klägliches Ende ersparen können. Abgesehen von diesen schmerzlichen Erinnerungen hatten sie keinen Kummer.

Dagegen war den Menschen die Situation unklar und unbehaglich. Sie sahen wohl, dass die Mäuse fort waren, aber das passte ihnen auch nicht, denn ihr Wunsch war die Quälerei und Vernichtung der Mäuse gewesen. Also sandten sie Kundschafter aus, um festzustellen, wo überhaupt die Mäuse geblieben waren.

Eines Tages ging eine weisse Maus oberhalb der Stadt auf der Erde spazieren, da traf sie einen Menschen. Sie erschrak heftig und dachte, er wolle sie töten. Er aber sprach sie liebreich an, reichte ihr die Hand, erkundigte sich nach ihrem und ihrer Familie Ergehen und bedauerte, dass sie in eine unbekannte Gegend fortgezogen seien. Denn, so sagte er, gerade die weissen Mäuse hätte er immer besonders hochgeschätzt, nur die grauen seien allgemein unbeliebt, das möge sie doch all ihren weissen Verwandten sagen. Dann verabschiedete er sich wieder mit herzlichem Händedruck.

Voller Freude kam die weisse Maus zurück in die Stadt und erzählte ihren Angehörigen von dieser Begegnung. „Und sogar die Hand hat er mir gegeben, zweimal“, setzte sie stets mit tiefer Bewegung hinzu. Die Weissen beriefen eine geheime Versammlung ein. „Mäusinnen und Mäuseriche“, sagte der Hauptredner, „wir haben töricht und voreilig gehandelt. Warum sind wir in diese unterirdische Stadt emigriert? Ist es uns vorher etwa schlecht ergangen? Uns weisse Mäuse haben die Menschen immer gut behandelt. Sie haben uns eigene Kästen gebaut und wir durften vor ihnen tanzen. Wir konnten uns auf allen Jahrmärkten produzieren und haben den schönsten Beifall geerntet, gelegentlich sogar Zucker bekommen. Dann und wann hat man einen ein bisschen gemartert – aber das waren vereinzelte Fälle und es geschah eigentlich auch nur, wenn einer nicht richtig tanzen wollte.“ „Mein hochverehrter Herr Vorredner hat recht“, rief ein anderer, ganz dicker Mäuserich. „Wer von uns kann sagen, dass er je Not gelitten, Nahrungssorgen gehabt habe? Alles, was man von uns verlangte, war, dass wir uns immer bewusst blieben, Mäuse zu sein, dass wir uns niemals mit den Menschen verglichen. War das nicht richtig? Was aber haben die Grauen getan? Alles unterwühlt und angeknabbert, immer die gleichen Rechte auf das Dasein verlangt, wie die Menschen – und so ist durch sie das Unheil in die Welt gekommen!“

Die Versammlung wurde immer stürmischer. Ein paar ältere Redner wollten zwar sagen, es sei doch nicht so schön gewesen, wie die anderen meinten, und man hätte nachweislich sämtliche Mäuse ausrotten wollen. Aber sie drangen nicht durch mit ihren schwachen Stimmen. Die Versammlung beschloss mit grosser Mehrheit Entsendung einer geheimen Deputation an die Menschen, Wiederaufnahme der Beziehungen unter vorbehaltloser Anerkennung der Verschiedenwertigkeit von Menschen und Mäusen, feierliche Unterwerfung unter die gottgewollte Ueberlegenheit der Menschen als Herren der Erde.

Als die Deputation zu den Menschen kam, erfuhren diese erst richtig vom Vorhandensein der Mäusestadt. Sie liessen sich eine genaue Beschreibung der Lage und Einrichtungen geben. Nachdem sie dann die Deputation ihren Katzen zum Fressen ausgeliefert hatten, leiteten sie einen in der Nähe fliessenden Fluss kreisförmig um die Stadt und ersäuften alle Mäuse miteinander, die grauen mitsamt den weissen.



Empfohlene Zitierweise:
Paul Bekker: Musik (Artikel für das Pariser Tageblatt). , Paris 1934–1937, Seite 27. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Musik_(Artikel_f%C3%BCr_das_Pariser_Tageblatt).pdf/27&oldid=- (Version vom 1.8.2018)