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Busoni


Am 27. Juli sind 10 Jahre vergangen, seit Busoni starb.

Lange Zeit galt er nur als berühmter Klavierspieler, und es ist zu begreifen, dass jeder, der ihn einmal gehört hat, eine unauslöschliche Erinnerung daran bewahrt. Unter den heut Lebenden ist keiner, der ihm nur von Ferne verglichen werden könnte. Nicht etwa wegen besonderer technischer Gewandtheit oder irgendwelcher anderer pianistischer Vorzüge. Wenn Busoni spielte, vergass man, dass man ein Klavier hörte. Es geschah irgend etwas, das seinen Ursprung eigentlich in einer ausserklanglichen Sphäre hatte. Aus weiter Ferne sprach eine Geisterstimme. Das Pianistische daran war nur zufällige Erscheinungsform. Eben darum einmalig, unvergleichbar.

Aehnlich war es, wenn man mit Busoni persönlich zu tun hatte. Man sprach mit ihm und hatte doch das Gefühl, als sei noch ein anderer dabei, so dass, wenn der eine lachte, dieses merkwürdige, schrill mephistofelische Lachen, der andere, Entfernte, eine tiefernste, fast traurige Miene zeigte. Selten kam das Doppelwesen der menschlichen Natur so unheimlich drastisch zum Vorschein, wie an Busoni.

Diese Doppelheit empfand er selbst, aus ihr erwuchs die Problematik der eigenen Persönlichkeit. Er war Virtuose und Komponist, wenn man seine spirituelle Art des Schaffens als Komponieren im landläufigen Sinne bezeichnen kann. Er war ein ganz auf Improvisation gerichteter Künstler, dessen Darbietungen eben durch die Unmittelbarkeit ihren unvergleichlichen Reiz erhielten – und war zugleich einer der sogenannten Analytiker, ein reflektierender Aesthetiker voll sublimster Wägungen.

Er war vom Vater her Italiener, von der Mutter her Deutscher, und Deutschland wurde seine Wahlheimat, wie auch seine Dichtungen und Aufsätze deutsch geschrieben sind. Aber er wollte nicht das Enge und Begrenzte des Deutschen, wie er überhaupt keine Enge und keine Grenzen, nichts Schweres, nichts Hemmendes, wollte. Dieser ganze Mensch war eine einzige Sehnsucht zur Verbindung des Gegensätzlichen, zur Vereinigung der Doppelheit. Er glaubte nur an die Musik als solche und schrieb doch Opern; er erkannte die Unzulänglichkeit des Theaters und begeisterte sich für die Bühne. Er unterrichtete, mühte sich mit dem sorgsamen Fleiss des kleinen Pedanten um die Korrektheit jedes Pünktchens bei Bach, und lehrte doch gleichzeitig höchste Freiheit des Formens und Gestaltens. Sagen wir: er war ein Genius, der immer wieder versuchte, die ihm aufgezwungene Menschengestalt zu durchstossen und so zu sich selbst, zu seiner eigentlichen Heimat zu gelangen.

Dieser Mann hatte das Geschick, in der schlechtesten Zeit des fin de siècle seinen Aufstieg zu erleben, während der reifen Mannesjahre den Weltkrieg zu sehen und dann von der deutschen Republik zusammen mit Pfitzner nach Berlin berufen zu werden. Welche tragischen Ironien. Er, der in der toskanischen Landschaft, bei Florenz Geborene, liebte Berlin, liebte die Steinhaufen und den armen, abends farbig beleuchteten Springbrunnen des Viktoria Luise-Platzes. Hier ist er dann, fünf Jahre nach seiner Berufung, gestorben. Hier ist seine letzte Partitur, die des „Doktor Faust“, entstanden und bis auf einen kleinen Rest fast fertig geworden.

Das alles scheint widersinnig, fast unmöglich in seiner Gegensätzlichkeit von aussen und von innen. Aber Busoni bedurfte dieser Gegensätzlichkeit, aus ihr kam für ihn die schöpferische Spannung. Aus dem Virtuosengetriebe seiner Frühzeit erwuchs die sphärische Reinheit seines Kunstgewissens und seiner Denkart, aus dem Irrsinn des Krieges erwuchs sein europäisches Menschentum, aus dem Getöse des Berliner Kunstmarktes erwuchs sein Spiel vom Wesen des Menschen. Und aus dem Niederdrückenden der Gegenwart erwuchs das Schönste an ihm: sein Glaube an die Zukunft, an die Jugend, an das unzerstörbare Genie der Menschheit, das emporsteigt als knabenhafter Fackelträger aus dem Leibe des sterbenden Faust.

Es ist kaum möglich, über diesen merkwürdigen Mann so zu sprechen, auch nur andeutungsweise, wie seine Erscheinung es fordert. Sie ist zu vieldeutig, und jeder Hinweis kann immer nur ein Teilchen auffangen, während das Wichtige im Ganzen liegt. Die Anregungen, die er allein in kompositionstechnischer Beziehung der gesamten jüngeren Generation Deutschlands und Frankreichs gegeben hat – in Italien weiss man am wenigsten von ihm – sind kaum übersehbar. Er war der erste grosse Staudamm gegen die Ausbreitung der Wagner-Imitation, er hat die Besinnung gebracht auf das klingende Grundwesen der Musik, gegenüber jener immer stärker in das Deskriptive gehenden Straussischen Richtung, er hat mit seinen wahrhaft grossartigen Bearbeitungen der Grundwerke Bachs die Gesetze für den Vortragsstil neu aufgestellt. Aber das alles, und schliesslich seine Kompositionen selbst sind Einzelheiten. Das Entscheidende war jene höchste Freiheit der schöpferischen Anschauung, die von diesem Manne ausging und alles erfasste, das er berührte, alles verwandelte, in allem die entsprechende Freiheit weckte.

Und nun sei eines nicht vergessen: er hat nicht nur als Bannerträger der Kunst geschaffen und gelehrt, er hat auch als solcher gelebt. Er spielte nicht gern Klavier, aber er gab bis zum Kriegsausbruch regelmässig seine Klavierabende in Berlin: nicht um Geld für sich zu sammeln, sondern um für den Gewinn Orchesterkonzerte mit problematischen Novitäten – den einzigen, die man damals in Berlin hören konnte – zu veranstalten. Lediglich der Sache wegen, nicht aus Eitelkeit. Er selbst dirigierte nur dann, wenn der jeweilige Komponist nicht dazu imstande war. Das Bekanntwerden der neufranzösischen Musik in Berlin ist in erster Linie dieser selbstlosen Arbeit Busonis zu danken. Wo gibt es ähnliches? Man muss weit zurückgehen, bis auf Franz Liszt,[1] um etwas Vergleichbares zu finden. An die Gegenwart und die Tantiemesorgen ihrer Matadore darf man dabei nicht denken. Oder doch, um wenigstens für einen Augenblick den Abstand zu erkennen.

Erscheinungen wie Busoni sind Märchen, die der Welt in einer schönen Stunde erzählt werden. Sie klingen unwahrscheinlich und sie widersprechen aller Erfahrung. Aber sie halten den Glauben wach, dass es über alles Wirkliche hinaus eben doch diese Unwirklichkeit höherer Art gibt, dieses ferne Reich der Geister, aus dem von Zeit zu Zeit ein Sendbote zu uns kommt.

Der Letzte von ihnen hiess Busoni. Er hat tatsächlich unter uns gelebt und ist vor zehn Jahren gestorben.

Versuchen wir, zu begreifen, wer und was er war, um daran zu ermessen, wo eigentlich wir uns gegenwärtig befinden.

Da scheint es, als hörten wir wieder jenes erschütternde teuflische Lachen und sähen dabei jenen Blick, der ohne Träne weint.



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Paul Bekker: Musik (Artikel für das Pariser Tageblatt). , Paris 1934–1937, Seite 38. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Musik_(Artikel_f%C3%BCr_das_Pariser_Tageblatt).pdf/38&oldid=- (Version vom 1.8.2018)