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Bestandsaufnahme


Es ist üblich, auch in der Kunstbetrachtung, die Einzelerscheinungen summarisch zu klassifizieren. Man sagt etwa „die Romantiker“, oder „die Klassiker“, oder die „Kulturbolschewisten“. Sofort ist eine bestimmte Vorstellung da, oder tut doch so, als ob sie da sei. Abgesehen von der Kürze bietet dieses Verfahren den unschätzbaren Vorteil, dass man sich über die wichtigsten und entscheidenden, also gerade die schwierigst zu fassenden Dinge nicht zu äussern braucht, denn eben die sind bereits in der Allgemeinbestimmung enthalten.

Dass mit dieser Urteilsart unsägliche Verwirrung in die gesamte Kunstbetrachtung getragen worden ist, bedarf keiner Feststellung. Zunächst: nach welchen Kennzeichen wird eingeteilt? Ist Beethoven ein Klassiker oder ein Romantiker, oder am Ende gar ein Kulturbolschewist? Sodann: nach welchen Gemeinschaftskennzeichen werden die Erscheinungen gruppiert? Es kommt vor, dass einander völlig entgegengesetzte Naturen sich fünfzig Jahre nach ihrem Tode als Mitglieder der gleichen Schule beisammen finden. Für die Uebersicht mag das gut sein, für den Sachverhalt trifft es nicht zu.

Aber abgesehen von alledem: die Methode an sich ist bedenklich. Wir sollten in der Kunstbetrachtung mehr achten auf die Verschiedenheiten der Führenden. An diesen Verschiedenheiten dokumentiert sich der eigentliche schöpferische Wert der Persönlichkeit. Dieser schöpferische Wert wiederum ist es, der das Gesicht der Zeit und damit auch die neue Wegrichtung bestimmt.

Fragen wir also: was eigentlich ist heut an wichtigen Musikern in der Welt vorhanden, gleichviel welcher Nationalität, gleichviel welcher Richtung – rein begabungsmässig und dem Können nach gesehen, mögen sie im übrigen braun oder schwarz oder rot sein.

An Deutschen gibt es eigentlich nur drei, die heut zu zählen sind: Richard Strauss, Paul Hindemith, Kurt Weill. Nehmen wir die Oesterreicher hinzu, so kommen Alban Berg, Ernst Krenek und vor allem Arnold Schönberg in Betracht. Frankreich stellt Ravel, dazu Milhaud, Poulenc – wir sind am Ende. Die Tschechoslowakei hat den spitzfindigen Alois Haba, Ungarn hat Bartok und Kodaly, Italien Pizetti, Alfano, Mascagni in der älteren, Casella und Malipiero in der etwas jüngeren Generation. Vom gegenwärtigen Russland weiss man zu wenig, England, Amerika, Spanien, der Balkan, die skandinavischen Länder haben Begabungen, aber keine überragenden Talente, die Schweiz paradiert mit Schoeck[1] und Honegger, und schliesslich sei der zwischen den Völkern lebende Wichtigste von allen: Strawinski nicht vergessen.

Vielleicht fehlt in dieser Liste noch dieser und jener, der deswegen nicht als geringwertig gelten soll. Es kommt hier nicht auf Vollständigkeit des Verzeichnisses an, sondern nur auf Hervorhebung zweier Tatsachen: zunächst, dass eine immerhin stattliche Anzahl wirklicher Begabungen da ist, sodann: dass die jüngsten von ihnen annähernd zwischen Vierzig und Fünfzig zählen.

Unsere Musik hat keine Jugend. Das ist das Schlimmste, schlimmer als alle Streitereien um Tonalität oder Atonalität, um Bolschewismus, Faschismus oder Hakenkreuz. Die Linie der schöpferischen Musiker geht bis zu der heut im Mannesalter stehenden Generation, da bricht sie ab. Es kommt nichts mehr nach, sei es wie es wolle.

Woran liegt das?

Die Politik hat unsre Musik aufgefressen.

Nicht nur unsre Musik, eigentlich alle Künste. Aber schliesslich kann man politische Bilder malen, man kann politische Dramen und Romane schreiben. Dass sie meist nichts taugen, bleibe hier ausser Betracht. Aber man kann auf keinerlei Art politische Musik machen, nicht einmal schlechte.

Hier hilft kein Klagen, hier ist nur das Kennzeichen unseres Geisteszustandes zu konstatieren. Der einzig mögliche Nutzen ist, aus der Erkenntnis der Tatsache zu lernen, was eigentlich sie bedeutet.

Gewiss, man kann sagen: es ist aus vielerlei Gründen wichtiger und notwendiger, dass politisch und wirtschaftlich Ordnung geschaffen werde, als dass wir neue Opern oder Konzertwerke erhalten. Wenn wir also wählen müssen, so ist es für die Allgemeinheit eher zu ertragen, dass fünfzig oder hundert Jahre hindurch keine neue Musik komponiert werde und man inzwischen von dem gut und reichlich Vorhandenen zehre.

Das mag einleuchtend klingen, und tatsächlich leben wir bereits in diesem Zustand. Aber die Logik ist falsch. Man kann sich nicht auf beliebige Zeit künstlerisch ab- und dann wieder anstellen. Diese Abstellung ist in Wahrheit eine Zerstörung, und die Idee, es sei möglich, hinterher einfach das Ventil „Musik“ wieder aufzudrehen wie einen Wasserkrahn erweist nur die Ahnungslosigkeit gegenüber den Vorbedingungen künstlerischen Schaffens.

Wahrheit ist, dass jede durchgreifende Politisierung den Kunsttrieb, insbesondere die musikalische Produktionskraft unterbindet. Die Politisierung stellt den Menschen auf eine so völlig andere Ebene des Denkens und Wollens, dass damit alle Verbindungen an den Quellen des musikalischen Produzierens verschüttet werden. Dieses selbst bleibt ein Phänomen im luftleeren Raum, das bestenfalls zum belanglosen Zeitvertreib wird.

Aber hat man nicht gerade in Bezug auf die Deutschen gesagt, sie müssten überhaupt erst zu politischem Denken erzogen werden? Wäre dann die jetzige Zeit mit ihren zu erwartenden Rückwirkungen vielleicht eben die Periode dieser harten, aber unumgänglich notwendigen politischen Schulung, die, wenn sie in ihren Konsequenzen wirklich zum Erfolg führt, mit einigen Jahrzehnten des Schweigens in der Musik nicht zu teuer erkauft wäre?

Es ist zu fürchten, dass der hohe Preis vergeblich gezahlt wird. Was jetzt geschieht, ist weder unmittelbar noch mittelbar Erziehung zum politischen Denken. Es ist systematische Entwertung des Menschen, Reduzierung auf seine rein politische Zweckhaftigkeit unter planmässiger Opferung aller jener Qualitäten, die dieser politischen Zweckhaftigkeit erst einen tieferen Sinn und damit wahrhafte Rechtfertigung geben. Die geistige Kastrierung, die heute unter dem Zeichen nationalistischer Ziele an grossen Völkern verübt wird, ist in ihrer verhängnisvollen Auswirkung am deutlichsten beim deutschen Nationalsozialismus erkennbar, weil er die minderwertigste unter allen gegenwärtigen politischen Denkformen ist. Indessen, täuschen wir uns nicht: die Disposition dafür ist zur Zeit in der ganzen Welt vorhanden. Je mehr sie zur Verwirklichung gelangt, um so mehr schmilzt das künstlerische Vermögen der Menschheit zusammen, umso weniger Musik gibt es in der Welt.

Wir dürfen, ohne selbst „Politiker“ zu sein, den Rückschluss ziehen: es muss eine sehr schlechte und grundfalsche Politik sein, die zwangsläufig das zerstört, was überhaupt erst den Sinn und die Schönheit des Daseins ausmacht.

Wir müssen hinzusetzen: das Schlimmste, was die heute zur Herrschaft gelangenden politischen Systeme mit sich bringen, ist nicht diese oder jene Einzelheit ihrer Lehre. Es ist ihr Anspruch auf totale Erfassung der Menschen, der Völker. Aus diesem Anspruch ergibt sich ihre vernichtende Wirkung.

So ist der heutige Zustand der Musik das Wetterzeichen für den Geistesstand der Menschheit. Sie ist im Begriff, sich an der Politik unfruchtbar zu machen. Ihre Musik aber stirbt nicht aus Mangel an Begabungen, sondern an der Sterilität und niederziehenden Kraft der Politisierung, in die sie hineingezwungen wird.

Wo ist die neue Jugend, die, über die entwertende Politisierung hinweg, ihr Ziel wieder in jene Dinge setzt, durch deren Fassbarmachung der Mensch erst zum Menschen wird?



  1. Vorlage: Schoeckh
Empfohlene Zitierweise:
Paul Bekker: Musik (Artikel für das Pariser Tageblatt). , Paris 1934–1937, Seite 46. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Musik_(Artikel_f%C3%BCr_das_Pariser_Tageblatt).pdf/46&oldid=- (Version vom 1.8.2018)