Die Durchführung der russischen Juden durch Europa bis auf die Ueberseedampfer, die Organisation, die es zu Wege brachte, daß Tausende und Tausende durch Deutschland und zum Teil durch Westeuropa ohne alle wesentliche allgemeine Störungen, ohne begründete und daher wirkungsvolle antisemitische Vorstöße, unter Vermeidung der Einschleppung von Krankheiten sich bewegen konnten, ist eine große Tat der europäischen Juden und in diesem Falle entsprechend den geographischen Vorbedingungen ganz überwiegend der deutschen Juden und der deutschen Regierungen, die in Sachlichkeit jedem verständigen Vorschlag von jüdischer Seite ihre Zustimmung gaben.
Eine Völkerwanderung von Ostjuden aus Rußland und dann im wesentlichen über See hat stattgefunden, aber auch diese Massenflucht, der eine freiwillige Auswanderung folgte, als die in Uebersee langsam zu Besitz gelangten Juden Verwandte, Freunde, Arbeitsgenossen nachkommen ließen, hat doch nicht erheblich den Charakter der Judenfrage in Westrußland zu ändern vermocht. Bei vorsichtiger Schätzung wird man sagen können, daß der Geburtenzuwachs der Juden in Rußland nicht mehr zum Ausdruck kam. Es mögen so viel Erwachsene ausgewandert sein, wie jüdische Geburten in diesen Gebieten Rußlands zu verzeichnen waren. Da zuverlässige Statistiken nicht zur Verfügung stehen, so muß die Schätzung als Ergänzung benutzt werden.
Man kann also daran festhalten, daß die Politik Plehwes und des Zarismus zwar das natürliche Wachstum der Juden in den Westgebieten des Reiches durch eine Methode furchtbarster Greuel niedergehalten hat; aber mehr auch nicht.
Dann kam der Weltkrieg, und damit neue unerhörte Leiden für die russischen Juden.
Paul Nathan: Das Problem der Ostjuden. Philo Verlag und Buchhandlung GmbH, Berlin 1926, Seite 14. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Nathan-Das_Problem_der_Ostjuden_(1926).djvu/14&oldid=- (Version vom 1.8.2018)