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ganz anders beurtheilen wir jetzt die Gefühle, die uns beseelt, die Wünsche, die uns durchglühet, die Sorgen, die uns geängstigt, die Bestrebungen, die uns erfüllt, die Freuden, die uns entzückt, das Glück, nach dem wir gestrebt und gerungen haben; wie nichtig, wie eitel, wie bedeutungslos erscheint uns alles dies jetzt, wo es ein Vergangenes und Entschwundenes ist, wo der Schnee des Alters unsre Gluten abgekühlt, wo die Erkenntnis einer langen Erfahrung unser Urtheil gereift hat, – und das ganze Leben scheint uns ein Traum, ein Schatten, der vorüberzieht, eine Wolke, die zerrinnt, ein Schall, der verfliegt!

Aber wie einerseits der Blick in die Vergangenheit uns traurig stimmt und verdüstert, indem sie uns die Flüchtigkeit und Nichtigkeit des Daseins zeigt, so erhebt und erfreuet uns wiederum anderseits dieser Rückblick. Denn durch den trüben Wolkenschleier der Vergangenheit sehen wir das Sternenlicht deiner Gotteshuld und Liebe um so glänzender hervorleuchten, wie sie erhaben über Menschenverstand und Einsicht auf Erden walten, und die Ereignisse lenken und leiten, nicht nach des Erdensohns kurzsichtigen Wünschen, sondern nach deiner ewigen Weisheit. Jetzt sehen wir erst, wie du oftmals unsre Hoffnungen hast unerfüllt, unsre Gebete hast unerhört gelassen, nur zu unserm Heile und Segen; wie du oftmals das, was wir im heißen Sehnen als unser höchstes Gut uns herbeigewünscht, uns hast versagt, und wiederum das, was wir als unser größtes Uebel gern hätten von uns fern gehalten, über uns hast herbei kommen lassen, und dadurch gerade unser Glück und Wohl begründet hast. Jetzt erst erkennen wir es! Wo wir zu fallen glaubten, sind wir gestiegen, und von dem wir glaubten, es werde uns empor und in die Höhe bringen, das hätte uns dem Abgrunde zugeführt. Kein Tag unsres Lebens war ledig deines Schutzes, keine Stunde leer von deiner Huld. Mit tausend Freuden hast du uns das Herz erquickt, in allen Lagen warst du uns nahe, in allen Verhältnissen uns zur Seite. Wo wir es am wenigsten erwarteten, kam deine Hilfe uns entgegen, sind deine Gaben uns zugeströmt. Wie sollte nicht ein solcher Rückblick uns mit heiliger Gottesfreude erfüllen, wie sollte uns nicht mit mächtigen seligen Gefühlen das Bewußtsein erheben, einen so gütigen Vater im Himmel zu haben, so geliebt, bedacht, versorgt und getragen zu werden von einer allmächtigen, allliebenden Hand, so geführt und geleitet zu werden von einer unerforschlichen Weisheit und Güte! Darum danke ich dir und preise dich,

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Fanny Neuda: Stunden der Andacht. Wolf Pascheles, Prag 1858, Seite 120. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Neuda-Stunden_der_Andacht-1858.pdf/132&oldid=- (Version vom 1.8.2018)