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II.

„Mit jedem Morgen neu
Ist Vater deine Treu.“
 (Klagel. Jerem. 3, 23.)


Mein Schöpfer und Erhalter! Abermals ist ein Tag angebrochen, von neuem durchdringt der freundliche Morgenstrahl die Welt, und neu belebt vom wohlthätigen Schlummer stehe ich hier vor dir, mein Gott, und weiß nicht, wofür ich zuerst dir danken, um was zuerst dich anflehen soll.

Dieses Weltall, so strahlend von Weisheit, Allmacht und Güte, ein Werk deiner unermeßlichen Vaterhuld und Liebe, hast du zum Wohnsitz für den bevorzugten Sohn der Schöpfung, für den Menschen hervorgerufen, und alle Schätze und Kräfte der Natur ihm dienstbar gemacht. Aus Staub hast du seinen Leib gebildet, der Scholle ihn entnommen, auf daß er die Vergänglichkeit und Nichtigkeit seines irdischen Wesens erkenne, und sich beeile, die Aufgabe und Bestimmung seines Lebens zu erfüllen; daß er das Gute, das er heute thun kann, nicht auf morgen verschiebe, damit ihn nicht, bevor er sein Werk vollendet, die letzte Stunde ereile. – Seinem Leibe hast du den Odem des Lebens eingehaucht, ihn mit einem Funken deines göttlichen Geistes begabt, damit er durch ihn deine Allmacht erkenne, durch ihn sich angefeuert fühle dir nachzustreben, und zu werden dein Ebenbild an Güte und Milde, an Langmuth und Versöhnlichkeit.

Der Erdensohn jedoch, wie oft vergißt er die hohe, weise väterliche Bestimmung, zu der du ihn berufen hast, vergißt in seinem Uebermuthe oder in seinem Leichtsinne über die Schöpfung den Schöpfer, über die Gaben den Geber. Er berauscht sich in den Vergnügungen des Lebens, und verabsäumt über die Erde den Himmel, über das Empfangen das Spenden, über das Wohlleben das Wohlthun, über den Genuß die Thätigkeit, verschließt sein Inneres den Anforderungen des Rechts und der Menschlichkeit, und verschließt sein Ohr dem Nothschrei seines Nächsten, dem Hilferuf seines Bruders!

Mein Gott und Herr, mögest du mich bewahren, daß mein Leben nimmer eine solche verfehlte Richtung annehme, daß mein Herz nicht so sehr am Irdischen und Weltlichen hange, um darüber die höhere Weihe des Daseins zu vergessen und aufzugeben. Mögest

Empfohlene Zitierweise:
Fanny Neuda: Stunden der Andacht. Wolf Pascheles, Prag 1858, Seite 4. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Neuda-Stunden_der_Andacht-1858.pdf/16&oldid=- (Version vom 1.8.2018)