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Alles ist dahin, überall Trümmer und Vernichtung! – Mit Schmerz umfasse ich diese Trümmer und beweine deinen Untergang, unglückselige Stadt! Mit deinem Fall betraure ich auch den Fall meines Volkes. – Doch nicht mit dir, vor dir schon war mein Volk gefallen von der Höhe einer gottgeliebten Nation in den Abgrund der Sünde und des Treubruches an unserm Hort und Schöpfer; dein Sturz hat den ihrigen nur besiegelt und der Welt geoffenbart; Gottes strafende Hand in dir das Paradies wiederum zerstört, welches er dem sündigen Volke geschaffen und bereitet hatte.

Traure, meine Seele, traure, denn dieser Tag ist den trüben Erinnerungen des großen Verlustes geweihet; aber inmitten deiner Trauer tröste dich und preise gläubigen Sinnes Gott den Herrn, denn dieser Tag ist auch ein Tag des Trostes, ein Tag der ermuthigenden Hinweisung auf Gottes versöhnende Liebe und Gnade! Denn wie die Mutter das leichtsinnige, verirrte Kind mit der Hand züchtigt, aber mit den Blicken des Mitleids und des Erbarmens seine Thränen sieht, so hast du, mein Gott, dein Volk wohl gestraft, aber nimmermehr dein Angesicht von ihm abgewendet! Nach Jerusalems Fall haben wir uns wie verirrte Schafe zerstreut in alle Länder, unter die verschiedensten Völker, aber du, ein treuer Hirte deiner Heerde, ließest uns nimmer unter und verloren gehen. Die Stürme des Unglücks haben uns umtost, doch nur zu beugen, nicht zu brechen und zu vertilgen vermochte uns ihre Wuth; die Kälte des Hasses um uns her hat unsere Glieder erstarren gemacht, aber deiner Liebe Sonnenschein hat uns wieder erwärmet. Fluthen sind über uns dahingegangen, aber durch die Fluthen führte uns deine Gnadenhand ans grüne trockene Eiland. Noch sind wir dein Volk, noch sind wir deine Kinder, dein Zorn hat sich besänftigt, ein neues Vaterland hast du uns geöffnet, und wieder stehen wir, Menschen unter Menschen, Bürger unter Bürger, und alle Völker sind unsere Brüder. Und den Tempel – auch den wollen wir uns aufbauen nach Kräften und Vermögen: das Allerheiligste – das sei uns unser Herz, darin sollst du wohnen und thronen, und kein unheiliges, unreines Gefühl es entweihen; der Altar - das sei uns die leidende Menschheit; auf diesem geheiligten Altar wollen wir unsere Spenden und Opfer niederlegen; und wenn uns die Priester fehlen, so möge unsere gläubige Hoffnung und unser kindliches Vertrauen unser Priester und Fürsprecher sein vor deinem Throne. Amen.

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Fanny Neuda: Stunden der Andacht. Wolf Pascheles, Prag 1858, Seite 37. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Neuda-Stunden_der_Andacht-1858.pdf/49&oldid=- (Version vom 1.8.2018)