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seine ernsten Töne rufen mir zu: Erdenkind, ermanne dich, ermanne dich! Ein Jahr ist nun wieder hingegangen, und du, du stehest noch immer da, befleckt von den Sünden der Vergangenheit, beschwert von deinen alten Irrthümern und Fehlern; reinige dich, wasche dich in dem klaren Wasser der Unschuld, thue jene ab von dir durch Gebet voll Inbrunst vor Gott, durch Thränen und durch Reue, schüttle ab von dir den alten Menschen, verderbt durch sündige Gelüste und Triebe, betritt die Schwelle des neuen Jahres als ein neues Wesen, als ein neuer Mensch, geschaffen im Bilde Gottes, als ein Kind an Unschuld und Lauterkeit des Herzens. In das verjüngte Jahr tritt du selber verjüngt ein, verjüngt in der Kraft zu allem Guten und Edlen; verjüngt in dem festen Vorsatz und Entschluß, Gott zu dienen und deinem Nächsten wohlzuthun; verjüngt in den heiligenden Gefühlen zu ringen nach Frieden, Wahrheit und Gerechtigkeit. – Es spricht der Herr: „Werft ab von euch alle Sünden, wodurch ihr euch vergangen habt, schaffet euch ein neues Herz, einen neuen Sinn! Warum wollt ihr dahinsterben, Haus Israels!“

Am heutigen Tage sitzest du, o Gott, zu Gericht, und des Schofars Schall verkündigt dem Menschen den Tag des Gerichts. Gott der Allerheiligste geht ins Gericht mit dem schwachen Erdensohne, mit dem Staubgebornen, an dessen Schritte sich die Sünde klammert. „Gott, du schauest alle meine Heimlichkeiten, aller meiner Sünden Zahl, und ich muß vor dir vergehen!“

Und wieder tönt des Schofars Klang, und inmitten seiner Töne durchdringt mich der tröstende Gedanke, daß du, o Gott, nicht nur unser Richter, sondern auch unser Vater, nicht nur allgerecht, sondern auch allgnädig und allerbarmend bist. Du hast auch diesen furchtbaren Tag, den Tag des Gedächtnisses, in deiner Vaterhuld für uns geschaffen und festgesetzt, nur uns zum Heil und zum Segen, um unser Gewissen aus seinem sorglosen Schlummer wach zu rufen aus dem Leichtsinn und der Zerstreuung des alltäglichen Lebens und Treibens, uns aufzurütteln zum Bewußtsein unseres bessern Ichs und unserer höhern Bestimmung auf Erden. – Und ein trostreiches Licht fällt mit diesem Gedanken in meine Seele, und betend und hoffend trage ich mein Herz zu dir hinan!

In Thränen gedenke ich meiner Sünden, ich bereite tief und bitter all meine Vergehen, ich gelobe mir, von heut an, mich eines

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Fanny Neuda: Stunden der Andacht. Wolf Pascheles, Prag 1858, Seite 44. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Neuda-Stunden_der_Andacht-1858.pdf/56&oldid=- (Version vom 1.8.2018)