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Sinne, wo ich losgerissen und abgeschnitten von allen Beziehungen zu der eitlen Welt und deren Aufregungen, mich ganz versenke in die Anschauung deines hocherhabenen Wesens und in die Betrachtung meines eigenen Ichs; was ich heute empfinde: – wird es auch noch lebendig in mir bleiben, wenn ich diese Hallen verlassen haben und dem Leben und Treiben der Außenwelt wieder hingegeben sein werde, wenn ich gegen die Leidenschaften, gegen die Noth und die Sorge ankämpfen müßte, wenn die Locktöne der Verführung mir erschallen, oder wenn die Sünde in der blendenden Gestalt von Ruhm und Ehre mir erscheinen würde?

Ach, in dem Bewußtsein der Schwäche und der Ohnmacht des menschlichen Herzens zittre und bebe ich, daß meine frommen Entschlüsse nicht wieder wankend werden, daß ich meinen Gelöbnissen und Vorsätzen alsdann nicht wieder untreu werde! Gib, Allgütiger, daß der heutige Tag nie auf mich seinen erhebenden Einfluß verliere, daß der Geist des Guten, der mich heute beseelt, nie von mir weiche! Gib, daß die Sünde, in welcher Hülle sie auch erscheine, stets häßlich und verabscheuungswerth in meinen Augen sei, und wie verführerisch sie auch meinen Sinnen schmeichle, ich dennoch nie aufhöre, sie zu hassen und zu fliehen, daß ich stets das wahrhaft Gute ehren, die Tugend erkennen möge in ihrem Adel, in ihrer ewigen Erhabenheit, sie lieben und hervorziehen, wo und wie ich sie finde, wenn auch in den Hütten der Armuth und des Elends, wenn auch im Gewande der Dürftigkeit und der Niedrigkeit! – Möge es mir gelingen, stets stark und fest und unerschütterlich zu bleiben im Guten, möge ich stets besser und dir ähnlicher werden, mein Gott und Herr, um stets mit freiem Gewissen und froher Zuversicht zu dir aufschauen zu können. Amen.


Während der Bußtage.

„Mein Gott, ich schäme mich und scheue mich, meine Augen zu dir aufzuheben.“
 (Esra 9, 6.)

Wieder sind sie eingetreten die ernsten, heiligen Tage, gewidmet der Reue und der Buße, der strengen Selbstprüfung und Selbsterkennung, der Rück- und Wiederkehr zu Gott, dem Allerheiligsten! So kehre denn, meine Seele, zuvor in dich selber ein! versenke deinen forschenden Blick in die Tiefen deines innersten

Empfohlene Zitierweise:
Fanny Neuda: Stunden der Andacht. Wolf Pascheles, Prag 1858, Seite 47. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Neuda-Stunden_der_Andacht-1858.pdf/59&oldid=- (Version vom 1.8.2018)