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Zu Mussaf des Versöhnungstages.

„Das Opfer, das dir wohlgefällt,
Ist ein gebrochner Sinn;
Ein gebroch’nes, ein zerschlag’nes Herz,
Gott, verschmähst du nicht.“
 (Ps. 51, 19.)

Mit Schmerz und Wehmuth begrüßt mein Herz die Erinnerung jener Tage der Versöhnung, die unsere Väter in deinem großen Tempel zu Jerusalem gefeiert, wo Pracht und Herrlichkeit gleich einem Wiederschein deiner Glorie und Majestät sich über die geheiligten Räume ergoß, wo der Leviten Schaaren unter feierlichem Sang und Klang, in Freudigkeit und Weihe deinen Dienst verrichteten, und der Hohepriester, strahlend in seiner Herzensreinheit, und in seiner äußern Pracht vor dich hintrat, um für sein Volk, das in heiliger Scheu um ihn versammelt stand zu beten, und ihre Opfer auf deinen Altar niederzulegen, und wo er ihnen die selige Verheißung verkündete: „An diesem Tage wird der Herr euch versöhnen, daß ihr rein werdet von allen euern Sünden vor ihm.“ Und das Volk, ergriffen und durchbebt von dem Namen Gottes, dem ehrwürdigen, dem furchtbaren, wie des Hohepriesters Mund in seiner Heiligkeit und Reinheit ihn aussprach, fiel nieder aufs Knie, bückte sich, und warf sich aufs Angesicht und rief: „Gelobt sei sein Name, sein Reich und seine Herrlichkeit in Ewigkeit.“ Und als der Tempeldienst zu Ende war, da strahlte des Hohepriesters Antlitz wie die Sonne in der Mittagshöhe, wie die Gottesengel an dem Himmelsthron! Denn wohlgefällig angenommen waren Opfer und Gebet, versöhnt warst du, o Gott, rein war das Volk wieder vor dir, der Sünden Fleck und Makel, roth wie Blut, hatte sich in Unschuld weiß wie Schnee verwandelt. Und vor Freude und Jubel jauchzte das ganze Volk und ergoß sich in frohe Lieder, die Wanderer auf den Straßen stimmten an Gottes Lob, und priesen ihn mit Paukenschall und Harfenton – sein Name war ein Festgesang.

Also feierten unsere Väter den Versöhnungstag. Doch uns ist nichts von all dieser Herrlichkeit zurückgeblieben: die geweihete Stätte, die gesegneten Hallen, die geheiligten Altäre, die heiligen Priester, die feierlichen Levitenchöre – sind nicht mehr; wir haben nichts als unsere heißen Thränen, als unser Blut, das wir im Fasten und Kasteien dir heut zum Opfer bringen. Und mit ergriffenem, zerknirschtem Herzen flehen wir zu dir. Ach, Herr, wir

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Fanny Neuda: Stunden der Andacht. Wolf Pascheles, Prag 1858, Seite 56. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Neuda-Stunden_der_Andacht-1858.pdf/68&oldid=- (Version vom 1.8.2018)