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Werke für Orchester.
H. H. Pierson, Op 86. Concertouverture zu „Romeo und Julie“ von Shakespeare. Leipzig, J. Schuberth. Part. 3 Mk. –
Ladislaus Tarnowski, Joanna Gray. Symphonisches Tongemälde zu des Autors gleichnamiger Tragödie. Wien, Kratochwill. –
Besprochen von Hrm. Zopff.


      Der Zufall fügt hier zwei Componisten zusammen, welche, wenn auch in Bezug auf Styl und Entwicklung grundverschieden, doch jedenfalls das Eine mit einander gemeinsam haben, daß beide von ächt fortschrittlichem Geiste erfüllt und von der Kritik meist nicht grade besonders glimpflich und human beurtheilt worden sind. So wenig es mir einfällt, stümperhafte Mittelmäßigkeit, unberechtigte Anmaßung oder unreife Excentricität in Schutz zu nehmen, so hemmend stellt sich doch der normalen Entwicklung so mancher begabten Natur noch immer der bei Weitem größte Theil der Presse entgegen, sei es mit brüsker oder gehässiger Rücksichtslosigkeit, sei es mit mindesten ebenso verderblicher übertriebener Lobhudelei talentvoller Anfänger. Mit selteneren anerkennenswerthen Ausnahmen ist besonders in der politischen Tagespresse die Kunstkritik bekanntlich noch immer großentheils in den Händen entweder von Dilettanten oder von engherzig verbissenen Fachleuten, von Leuten, deren Beschränktheit öfters viel gemeinschädlicher wirkt als dilettantisch harmlose Ignoranz und Oberflächlichkeit. Aber auch auf dem Gebiete der Fachpresse fördern manche als solche sich gerirende Blätter mitunter wunderbare Dinge zu Tage, welche auf sie ebenfalls ein seltsames Licht werfen müssen. Allerdings ist ja Niemand von uns unfehlbar, wem ist nicht schon ein lapsus c. passirt? Auch der Objectivste hat irgend ein Lieblingscapitel, ein Steckenpferd, das er sich hüten muß, zu häufig und bis ins Extrem zu reiten, jedem sind durch Naturell und Entwicklungsgang bestimmte Grenzen gesetzt, die nur ungewöhnlich unbefangene Frische der Anschauung und Energie des Charakters zu erweitern vermögen, jeder trägt gar zu gern eine bestimmte Brille, durch, die er, ob gerecht oder ungerecht, Alles zu beurtheilen liebt.
      Viel wichtiger dagegen erscheint die Gesinnung, mit welcher man an den oder das Beurtheilende herantritt, jene ächt collegialische Gesinnung, welche bei aller aufrichtigen Wahrheitsliebe von Wohlwollen, von dem unverhohlenen guten Willen getragen sein soll: anzuerkennen, wo sich Anerkennenswerthes findet, und bahnbrechen zu helfen dem noch nicht zur Anerkennung Gelangten, denn Anerkennung ist ja die unentbehrliche aber Lebenslust des Künstlers, besonders aber zu helfen und auf den rechten Weg zu leiten, wo sich Schwäche, Mängel, Irrthümer herausstellen. Nur zu oft findet sich aber die unbefangenere Gesinnung getrübt durch Leidenschaft, erregt durch allerhand ungerechtfertigte persönliche Beweggründe. Besonders häufig läßt sich die Jugend durch Leidenschaft zu unverantwortlichen Handlungen hinreißen, glaubt vor allen Anderen das Privilegium zu haben, die Druckerschwärze aus unedleren Motiven mißbrauchen zu dürfen.
      Kaum fühlt der junge Kritiker die Feder in seiner Hand und der kritischen Pluralis majestatis in seinem berauschten Gehirn, so fühlt er sich selbst auch als Großmacht. Vielleicht bloß, um einmal die Tragweite seines Einflusses zu erproben, kühlt er nunmehr an diesem aber jenem Collegen sein Müthchen, erstickt er mit einem Federstrich ein aufkeimendes Talent, vernichtet mit einem andern die Autorität eines Marx, Brendel oder Kiel, oder die Bedeutung eines Brahms, Franz

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Diverse: Neue Zeitschrift für Musik - Notizen und Artikel über Werke von Ladislas Tarnowski 1870-1878. C. F. Kahnt, Leipzig 1870-1878, Seite 377. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Neue_Zeitschrift_f%C3%BCr_Musik_-_Notizen_und_Artikel_%C3%BCber_Werke_von_Ladislas_Tarnowski_1870-1878.pdf/24&oldid=- (Version vom 20.8.2021)