Seite:NordSued 163 1917 06.png

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

zu beratschlagen, in welcher Form Deutschland zu der Friedensnote des Herrschers der katholischen Kirche Stellung nehmen soll. Zum ersten Male wird der Reichstag in dieser Form mitberatend zur Entscheidung über derartige diplomatische Aktionen zugezogen. Von der Art und Weise des Zusammenwirkens in dieser Frage soll die Ausbildung dieser Institution vielleicht zu einer Art Reichsrat für spätere Zeiten abhängig gemacht werden.

Viel Spott und Hohn ist über das neue Gebilde ausgegossen worden, ehe es noch zum ersten Male in Wirksamkeit trat. In unserer schnellebigen Zeit, in der nach den Egmontworten die Sonnenpferde der Zeit, wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht, mit unseres Schicksals leichtem Wagen durchgehen, sind viele geneigt, das Errungene als geringfügig anzusehen. Wenn man den Blick aber nur wenige Jahre rückwärts schweifen läßt, kann man sich dem nicht anschließen. Was ist seitdem in diesem Deutschland und Preußen alles vorgegangen! Ein Sozialdemokrat als Unterstaatssekretär im Kriegswirtschaftsamt, fortschrittliche Oberbürgermeister auf Ministerposten, in Preußen ein Staatsministerium, in dem zum ersten Male konservativer Einfluß nicht prävaliert, im Hauptausschuß des Reichstages eine Debatte, die sich mit der Form der Regierung in einer Weise beschäftigt, welche das kommende Gleichgewicht einer willensfähigen Mehrheit gegen die Regierung erkennen läßt, und bei einer weltpolitischen Aktion anstelle der geheimen Diplomatie ein Zusammenwirken zwischen Vertrauensmännern der Fraktionen, dem Bundesrat und dem Reichskanzler! Man kann in geistreichen politischen Feuilletons Jahrhunderte der Entwicklung leicht in wenigen Sätzen überspringen, aber man darf nicht erwarten, daß man eine Staatsform in Deutschland wie ein Gewand von einer Nacht zum anderen Tage vertauschen kann. Noch wissen wir nicht, wohin die Entwicklung letzten Endes sich wendet, aber die Entwicklung selber zeichnet sich am Horizont ab.

Ohne Parteibeschlüsse als Dogmen zu werten, sehe ich auch für meine eigene persönliche Stellung diese Entwicklung am besten aufgehoben, wenn sie sich nach den Grundsätzen bewegt, die in einer Konferenz der Landesvorsitzenden der nationalliberalen Partei dahin ausgesprochen wurde: „Ohne Übertragung des parlamentarischen Systems fremder Länder ein enges vertrauensvolles Zusammenwirken zwischen Regierung und Parlament sicherzustellen.“ Die ersten Anfänge zu einem solchen Zusammenwirken glaubte der Reichskanzler Dr. Michaelis darin zu finden, daß er Mitglieder der verschiedensten Fraktionen in Ministerposten und ähnlich geordnete berief. Der Reichsrat oder wie man das kommende Gremium nennen mag, sollte die Ergänzung zu diesen Berufungen sein. Nach zwei Richtungen ist hieran Kritik geübt worden: an dem fehlenden Konnex zwischen den in die Regierung eintretenden Parlamentariern, die der parlamentarischen Wirksamkeit entrissen werden, und an dem Gebilde des Reichsrats, das als ungenügender Ersatz

Empfohlene Zitierweise:
Gustav Stresemann: Parlamentarismus, in: Nord und Süd, Band 163, S. Schottlaender, Breslau 1917, Seite 6. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:NordSued_163_1917_06.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)