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für wirkliche Parlamentarisierung angesehen wird. Dringend ist der Ruf erhoben worden, statt diesen die Führer der Parteien zu Staatssekretären ohne Portefeuille zu berufen und damit die Zeit des Parlamentarismus in Deutschland einzuläuten, wobei über die Zweifelsfrage debattiert wird, ob eine derartige Berufung von Staatssekretären bedingt, daß sämtliche Parteien dabei berücksichtigt würden, oder ob man sich auf Mehrheitsparteien zu beschränken habe.

Schon früher sind gelegentlich Parlamentarier in die Regierung berufen worden, nicht weil, sondern obwohl sie Parlamentarier waren. Der deutsche Liberalismus kann vielfach nur mit Bedauern auf diese Entwicklung zurückblicken. Gar zu oft bewahrheitete sich das Wort, daß man einen Liberalen zum Minister machen kann, ohne deshalb einen liberalen Minister zu machen. Während konservatives Selbstbewußtsein in anerkennenswerter Weise die Zugehörigkeit zur Partei auch in der Ministerlaufbahn praktisch durchaus betonte, war der Zusammenhang zwischen den wenigen Konzessionsliberalen und ihren Parteifreunden oft gelöst. Diese alten Zeiten sind dahin, Ähnliches ist heute von den Männern, die berufen sind, nicht zu besorgen. Aber ganz falsch würde man die Bewegung, die in allen außerkonservativen Kreisen besteht, einschätzen, wenn man glaubte, daß es sich um Befriedigung persönlichen Ehrgeizes handelte, daß man der Öffentlichkeit nur ein Schaugericht darbieten wolle. Was hier vorschwebt, ist in den Worten des engeren Verhältnisses zwischen Regierung und Volksvertretung keine Phrase. Wir stehen vor der größten Belastungsprobe, die jemals ein Volk ausgehalten hat, an Kämpfen und[WS 1] blutigen Verlusten an der Front, an Entbehrungen hinter der Front. Wir stehen auch in der Zeit nach dem Kriege vor großen Aufgaben: Wirtschaftsfragen, soziale Gesetzgebung, die gewaltige Steuerpolitik. Die Politik, die dann getrieben werden wird, kann nicht in der Weise vor sich gehen, daß die Regierung bei jeder sich bietenden Gelegenheit nach einer Mehrheit im Parlament suchen muß, wobei sie vielleicht manchmal an das Faustwort gemahnt wird: „Auch auf Parteien, wie sie heißen, ist heutzutage kein Verlaß.“ Es ist auch kein erhebendes Schauspiel, daß große Finanzvorlagen völlig verändert aus der Kommission des Reichstages herausgehen und durch Steuern wie die Umsatzsteuer doch der Begriff des aus momentanen Erwägungen heraus gewonnenen Experiments in unsere Steuergesetzgebung hineingetragen wird. Diese großen Fragen müssen aus der Zufallswirkung heraus gelöst werden. Die Vorlagen müssen fertig und der parlamentarischen Kämpfe ledig sein, wenn sie an das Parlament gelangen.

Dazu ist aber nötig, daß Vertrauensmänner des Parlaments oder eines in ihm zusammengefaßten Arbeitsblocks von Mehrheitsparteien in der Regierung mitwirken und gleichzeitig den Zusammenhang mit ihren Fraktionen behalten. Dem steht heute der Artikel 9 der Reichsverfassung entgegen, welcher bestimmt,

  1. In der Vorlage sind hier am Anfang der Zeilen 22–24 Buchstaben vertauscht.
Empfohlene Zitierweise:
Gustav Stresemann: Parlamentarismus, in: Nord und Süd, Band 163, S. Schottlaender, Breslau 1917, Seite 7. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:NordSued_163_1917_07.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)