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Ernst Boger, Karl Eduard Paulus: Beschreibung des Oberamts Oehringen

verzehrt. Der Aufbrauch von meist selbst erzeugtem Obstmost und Wein ist in vielen Familien ein nicht unbedeutender. Der wachsende Wohlstand hat nicht nur den Aufwand für Speise und Trank, sondern auch den Luxus in Kleidern, Hausrath etc. merklich gesteigert. Der gute und öfters billige Wein darf als die Ursache vielfacher Excesse, namentlich von Seiten der ledigen Bursche angesehen werden. Überhaupt ist die Trunkliebe eine wohl seit alten Zeiten herrschende Untugend, die jedoch, nach dem Grundsatz der Toleranz bemessen, weniger als ein moralischer Fehler, als vielmehr als ein unüberwindlicher Naturfehler angesehen wird. Auch Fleischesvergehen, die nicht selten vorkommen, werden milde beurtheilt und bald wieder vergessen. Patriarchalische Züge treten im Familienleben, wenn auch nur vereinzelnt, noch hervor, z. B. in dem Vorbeten des Morgen- und Abendsegens durch den Familienvater, in dem Segensspruch, den er über die Wöchnerin und ihr neugebornes Kind ausspricht, in der gleichen Stellung der Dienstboten mit den Kindern des Hauses, was sich schon darin kund gibt, daß Knechte und Mägde ihre Hausherren und Hausfrauen „Vetter und Base“ nennen. Auch theilt der Hausvater wie die Arbeit, so die Speise und den Trank mit den dienenden Hausgenossen. Dagegen thun die leidigen Ausdingverhältnisse, die unverhältnißmäßigen Ansprüche der Dienstboten und eine zu nachsichtige Erziehung der Kinder dieser ehrwürdigen Familienordnung vielfachen Eintrag. Auch das Verhältniß zwischen den Taufpathen und den Kindern der Familien, bei denen sie Pathenstelle übernommen haben, ist immer noch ein sehr intimes und heilig gehaltenes. Bei allen Familien-Ereignissen und Festen gilt der „Dode, Dodle“ (Taufpathe) als der erste Freund, d. h. Verwandte des Hauses; namentlich werden die aus der Taufe gehobenen Kinder von kinderlosen Taufpathen oft und gerne berücksichtigt. Die Confirmanden besuchen vor der ersten Abendmahlsfeier ihre Pathen, um „abzubitten, abzudanken“ und ein Pathengeschenk entgegen zu nehmen.

Nicht minder hat das nachbarliche Verhältniß in der Regel noch etwas von der alten Treue; auch der Reichste wird nicht leicht seinem Nachbarn den Dienst versagen, in jeder Stunde der Nacht den Arzt aus der Stadt zu holen oder eine Leiche bei Verwandten der Umgegend anzusagen. An das „tollere“, den alten Anerkennungsakt der Vaterschaft erinnert, wenn auch nur noch der vereinzelt vorkommende Brauch, daß die Hebamme das neugeborne Kind auf den Boden legt und der Vater es aufhebt.

Von Volksgebräuchen hat sich auch sonst noch manches

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Ernst Boger, Karl Eduard Paulus: Beschreibung des Oberamts Oehringen. H. Lindemann, Stuttgart 1865, Seite 40. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:OAOehringen0040.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)