Seite:Offenes Sendschreiben an die evangelisch-lutherische Geistlichkeit in Bayern in der Gesangbuchssache.pdf/5

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wie auch jetzt noch ein Gesangbuch im Gebrauch bleiben und noch Vertreter finden kann, über das der längst wieder erwachsene bessere kirchliche Sinn den Stab gebrochen hat? Mancher liebe Amtsbruder wird mir vielleicht über meine freie Äußerung zürnen. Dem sey aber wiederholt versichert, daß ich Niemanden wehe thun will, nur die Ehre unserer Kirche und unseres Standes im Auge habe und für brüderliche Zurechtweisung nicht unempfänglich bin und gar wohl weiß, daß ich der Geringste bin, der in dieser wichtigen Sache eine Stimme abgiebt. Ich glaube nämlich die Wahrheit auf meiner Seite zu haben, wenn ich die Ansicht ausspreche, daß an dem so langen Fortgebrauch unseres Gesangbuches am meisten wir Geistlichen schuld sind und daß das Gesangbuch unser fortwährender Ankläger ist. Unsere evangelisch-lutherische Kirche hat, wie keine andere, einen reichen Schatz an den köstlichsten Kirchenliedern. Warum wird dieser aber immerfort den Gemeinden von uns vorenthalten? Sind wir die Herren oder nicht vielmehr nur die Haushalter über denselben und die Spender desselben? Wir verargen es dem römisch-katholischen Clerus, daß er dadurch an den Laien ein Unrecht begeht, daß er ihnen die Bibel vorenthält und den Abendmahlskelch entzieht; begehen nicht aber auch wir dadurch einen unverantwortlichen Raub an unseren Pfarrkindern, daß wir ihnen den köstlichen Liederschatz, der durch alle Jahrhunderte Gemeingut unserer Kirche seyn sollte, vorenthalten? Ist es nicht schon beklagenswerth genug, daß sich hie und da eine Gemeinde auch jetzt noch mit losen rationalistischen Predigten abspeisen lassen muß und unsere öffentlichen Gottesdienste durch unverzeihliche Vernachlässigung des liturgischen Theiles bis aufs minimum reducirt sind; sollen die Laien auch am Gesangbuche für die Kirche und das Haus nichts mehr haben? Oder ist es nicht über alle Maaßen erbärmlich, daß man bei einem Gesangbuche von 775 Liedern kaum auf den zehnten Theil derselben beschränkt ist, die übrigen alle aber stets nutzlos herumschleppen muß? Als ich vor einigen Jahren im Bade Kissingen den evangelischen Gottesdienst besuchte, fragte mich vor Beginn desselben mein Nebenmann, ein Hannoveraner, was gesungen werde. Ich schlug ihm,