Seite:Pahl Ueber die Liebe unter dem Landvolk.pdf/17

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Alles – wahrlich ich könnte ohne dich nicht leben – ich denke Tag und Nacht an dich! Aber er wird sich nie so weit vergessen, das er vor ihr auf die Knie niederfällt, daß er an ihrem Busen weint und seufzet, und daß er ihr unumschränkte Unterwürfigkeit schwört. Solche Ausbrüche einer falschen Empfindsamkeit kennt man auf dem Lande nicht, und man könnte sich durch nichts mehr bei dem angebeteten Mädchen selbst verächtlich machen, als eben durch sie. Die Natur gab dem Manne zu seiner größten Empfehlung beim schwächern Geschlechte Ernst, Würde und Festigkeit. Verläugnen wir nun diese Vorzüge, so müssen wir nothwendig vor dem Weibe zu schanden werden, die uns nach dem Leitfaden der Natur schäzt, und im Gang seiner Urtheile nicht durch willkürliche Grundsäzze mißgeleitet wird. Meistens würde auch das Landmädchen diese Sprache der Empfindsamkeit nicht verstehen, und wenn sie sie verstünde, so könnten wir uns kaum bei ihr von dem Verdacht reinigen, daß wir sie äffen wollen. Gelänge es uns aber sie zu vergewissern, daß wir aus Ueberzeugung sprechen, nun dann würden wir ihr verächtlich.

Der Kuß ist die erste und natürlichste Aeussrung der Liebe, und unter dem Landvolke beinah’ eben so gewöhnlich, als unter den gebildetern Ständen.

Empfohlene Zitierweise:
Johann Gottfried Pahl: Ueber die Liebe unter dem Landvolk. In: Die Einsiedlerin aus den Alpen, 3. Band, 8. Heft, S. 128–153. Orell, Geßner, Füßli & Comp., Zürich 1793, Seite 144. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Pahl_Ueber_die_Liebe_unter_dem_Landvolk.pdf/17&oldid=- (Version vom 1.8.2018)