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Wandelt das Mädchen auf Nebenwegen und verräth sich gegen ihren Vertrauten als treulos, so nimmt er nie Rache an ihr selbst, sondern immer an ihrem Verführer. Auch dieß ist der Natur vollkommen gemäß, die weit mehr Genuß in den Kampf mit dem Stärkern, als mit dem gleich unterliegenden schwächern Theile geleget hat.

Es ist eine äusserst gefährliche Sitte unter dem Landvolk, daß sie die Aeusserungen der Liebe so viel möglich verstekt, und in die dunkelste Verborgenheit zurükzieht. Könnte man der Jugend die richtigen Begriffe über den Unterschied der wahren und falschen Scham beibringen, und ihr dieselben so vergegenwärtigen, daß sie ihr Benehmen darnach einrichtete, so wäre den Verirrungen der Liebenden grossentheils vorgebeugt. Aber indem sie die scheinbare Schwäche einzuhüllen sucht, verfällt sie in das Laster. Zwar ist der Landjunge, der seinem Mädchen einen nächtlichen Besuch abstattet, noch unendlich weit über den verführenden Wohllüstling erhaben. Dieser erscheint stets mit dem Vorsatz der Unschuld ihre Krone zu rauben, und das Heiligthum der Tugend zu besudeln; aber jener geht dem ungestöhrten Genuß erlaubter Liebe entgegen, und strebt die Regungen der rohern Sinnlichkeit

Empfohlene Zitierweise:
Johann Gottfried Pahl: Ueber die Liebe unter dem Landvolk. In: Die Einsiedlerin aus den Alpen, 3. Band, 8. Heft, S. 128–153. Orell, Geßner, Füßli & Comp., Zürich 1793, Seite 148. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Pahl_Ueber_die_Liebe_unter_dem_Landvolk.pdf/21&oldid=- (Version vom 1.8.2018)