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früh hat man die Bemerkung gemacht, daß auf einem in Bewegung befindlichen Schiff, das weder rollt noch stampft, sich in der Tat alles so abspielt, als wenn das Schiff sich nicht bewegt, derart, daß die Passagiere die Vorstellung der Ruhe haben, solange nicht ein Blick auf die Ufer sie vom Gegenteil überzeugt. Erfahrung und Gewohnheit, wie sie sich tagtäglich darbieten, haben uns also das Prinzip der Relativität in glänzender Weise bestätigt, so daß wir auf dasselbe nicht ohne Widerstreben verzichten würden.

Und doch, das Prinzip ist nicht völlig richtig, es ist wenigstens nicht in dem Maße richtig, wie die Metaphysiker es wünschen würden. Wenn das Schiff geradeaus fährt, ohne sich nach rechts oder nach links zu drehen, ohne seine Bewegung zu beschleunigen oder zu verlangsamen – kurz wenn es, wie wir uns fachmännisch ausdrücken, eine geradlinig gleichförmige Translationsbewegung besitzt – dann ist das Prinzip ohne Widerrede richtig, nicht dagegen, wenn sich das Schiff um sich selbst dreht. Selbst wenn ein dichter Wolkenschleier uns beständig den Anblick des gestirnten Himmels entziehen würde, derart, daß wir die Vorstellung hätten, die Erde schwebe isoliert im leeren Raum, selbst dann könnten wir in Erfahrung bringen, daß die Erde sich in 24 Stunden um ihre Achse dreht. Foucault hat im Innern des Pariser Pantheons bekanntlich sein berühmtes Pendelexperiment gemacht und gezeigt, daß die Schwingungsebene des Pendels infolge der Erdrotation ihre Lage ändert. Vom Innern des Pantheon aus konnte er die Sterne nicht sehen, und doch erkannte er sehr wohl, daß die Erde sich dreht. Ja es bedarf dazu gar nicht eines schwierigen Experiments, denn auffällige Tatsachen, die wir tagtäglich beobachten, können zum Beleg herangezogen werden. Die ganze Meteorologie liefert uns den Beweis für die Erddrehung; denn infolge derselben wehen die Passatwinde beständig von Osten, drehen sich die Zyklone immer in derselben Richtung.

Das Prinzip der Relativität hat also keine Gültigkeit mehr, wenn die betrachtete Welt einer Rotationsbewegung unterworfen ist. Die Metaphysiker werden damit nicht zufrieden sein. Um so schlimmer für sie! Dagegen ist das Prinzip strenge richtig, wenn diese Welt sich in einer Translationsbewegung befindet, welche sie nur als Ganzes vorwärts führt, ohne sie zur Drehung zu bringen, wie rasch diese Translation auch sein möge. Wenn die Erdbewohner den gestirnten Himmel nicht sehen würden, so könnten sie zwar in Erfahrung bringen, daß die Erde sich um ihre Achse dreht, sie könnten aber nicht wissen, ob sie sich um die Sonne dreht. Wenn das nicht zutrifft, weiß ich nicht, ob die Wissenschaft überhaupt noch Existenzberechtigung hat. Es ist nun meine Aufgabe, Ihnen dies näher darzulegen.

Die Erde bewegt sich um die Sonne mit einer Geschwindigkeit von 30 km pro Sekunde. Aber gleichzeitig mit diesem Umlauf um die Sonne dreht sich die Erde um sich selbst. Ich will beispielsweise annehmen, daß in diesem Moment die Translationsgeschwindigkeit von Paris nach Berlin gerichtet sei. In 12 Stunden wird die Erde sich umgekehrt haben; die Translationsgeschwindigkeit wird dann von Berlin nach Paris gerichtet

Empfohlene Zitierweise:
Henri Poincaré: Die neue Mechanik. B.G. Teubner, Leipzig 1911, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PoincareMechanik.djvu/5&oldid=- (Version vom 1.8.2018)