Seite:Pomologische Monatshefte Heft 1 050.jpg

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seinem gedruckten Aufrufe an alle Pomologen und Obstbaumzüchter Deutschlands unter d. 18. Mai 1854 folgendermaßen ausspricht: „Vor Allem ist es die übergroße Zahl der Obstsorten, mit der wir zu kämpfen haben. Sie ist entstanden einmal aus der Vorliebe für das Neue, welche die deutschen Obstbaumzüchter verleitet hat, Alles was aus der Fremde kam, vorzugsweise in ihre Sammlungen aufzunehmen, zu vermehren und zu verbreiten; sie ist ferner entstanden aus der grenzenlosen Vermehrung der Sorten durch Kernsaaten.“

So scheinen sich also die gewichtigsten Stimmen unserer deutschen Pomologen nicht für weitere Vermehrung, sondern vielmehr für geflissentliche Verminderung der vorhandenen Obstsorten auszusprechen. Mir dagegen scheint es weder möglich, noch auch für das Fortschreiten unseres Obstbaues räthlich, die weitere Vermehrung unserer Obstsorten zu verhindern.

Fragen wir nämlich zuerst, wie die gegenwärtigen Obstzüchter und Pomologen zum Besitz und zur Kenntniß derjenigen vorzüglichen Obstsorten gekommen sind, welche sie vor Allen erhalten und vermehrt zu sehen wünschen, so sind uns die meisten derselben aus der Fremde und zwar aus Frankreich, aus den Niederlanden, aus England und Italien zugeführt worden, nachdem sie dort (wer weiß, durch welchen Zufall?) gewonnen und wegen ihrer Vorzüglichkeit vermehrt worden waren. Andere sind erst in der neueren Zeit durch geflissentliche Kernaussaaten, namentlich durch Von Mons und seine Freunde, erzogen und dann nach allen Seiten hin verbreitet worden.

Hätten nun unsere Vorfahren die fremden Sorten nicht eingeführt, und hätten die neueren Pomologen nicht durch Kernaussaaten die vielen neuen Sorten hinzugefügt, auf welcher Stufe würde dann wohl jetzt unsere praktische Obstbaumzucht und mit ihr unsere ganze Pomologie stehen? Man würde, überall auf das Oertliche und Provinzielle beschränkt, an die Möglichkeit Dessen, was jetzt durch das Zusammenwirken der Pomologen aller civilisirten Völker zu Stande gebracht ist, kaum glauben. Wir Deutschen würden weder die Beurré blanc und Beurré gris noch Diel’s und Napoleon’s Butterbirne, noch die vorzüglichsten Calvillen und Reinetten, noch die Reine Claude oder die Laekenkirsche besitzen. noch würde das Ausland unsere Borsdorfer, unsere Rettig- und Petersbirne, unsere Gaishirtel und Hoyerswerder Grüne kennen gelernt haben. Statt die aus Samen neu erzogenen Obstsorten mit diesen vorzüglichen, allgemein anerkannten Obstsorten zu vergleichen, würde man überall nur einen sehr beschränkten, provinziellen Maßstab anlegen können und somit hier Dieses, dort Jenes noch ganz geflissentlich zu erhalten suchen, was die uns entgegenstehenden Autoritäten jetzt, da wir längst weit Besseres besitzen, ebenso entschieden wie wir von diesem Besseren verdrängt und in den Hintergrund geschoben zu sehen wünschen.

Doch hierüber können diese pomologischen Stimmführer kaum anderer Meinung seyn, weil wer den Zweck will, auch die Mittel wollen muß, die dazu führen. Auch ist die Verbreitung dieser allgemein anerkannten Obstsorten bereits erfolgt; sie sind auch bei uns längst eingebürgert, und von ihrer Aufnahme oder Zurückweisung kann jetzt gar nicht mehr die Rede seyn. Vielmehr scheint man nur die unruhvolle Hast Derer beschränken und bekämpfen zu wollen, die ohne genügende Kenntniß und gerechte Würdigung des bereits Vorhandenen nur immer nach Neuem oder vielmehr nach dem Neuesten haschen, und sollte es auch nur ein neuer und noch dazu falscher Name seyn.

Empfohlene Zitierweise:
Ed. Lucas, J. G. C. Oberdieck (Hrsg.): Monatsschrift für Pomologie und praktischen Obstbau I. Franz Köhler, Stuttgart 1855, Seite 50. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Pomologische_Monatshefte_Heft_1_050.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)