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Marie Petersen: Prinzessin Ilse

Versuchung wach ist und die Sünde ihre heimlichen Wege schleicht, der hat mir schon manche arme Seele zugeführt, und wird doch wohl mit der dünnen Wasserprinzessin fertig werden. – Du Nordwind da unten, rühr’ dich und laß nicht ab; schüttele die Blätter von den Bäumen und bereite dem Winter den Weg, – du weißt, daß er nicht eher kommt, als bis er mit schweren Tritten durch’s dürre Laub rascheln kann.“

Und der Nordwind, als ein gehorsamer Knecht, sauste noch einmal so wild und eisig durch das Thal dahin. Die Buchen standen zitternd und fröstelnd da und ließen erschrocken ihre gelben Blätter an den Boden fallen; die Eichen bekamen vor Kälte rothe Spitzen, streiften endlich auch den letzten Blätterschmuck von den Zweigen und sahen mit nackten Aesten dem kommenden Winter bangend entgegen. Nur der Tannenbaum stand ruhig und trug unverändert seinen dunkelgrünen Königsmantel. Die kleine Ilse zu seinen Füßen, die konnte nicht begreifen, wo das Alles hinaus wollte, und sie schalt unmuthig zu den Bäumen hinauf: „Aber, aber, ihr tollen Bäume, was fällt euch denn ein, was werft ihr mir all die dürren Blätter in’s Gesicht? Habt ihr die kleine Ilse denn nicht mehr lieb, und wollt ihr die Augen auskratzen mit braunen Eicheln und harten Buchnüssen?“ Ganz zornig sprang die Kleine davon und schüttelte die trocknen Blätter aus den Locken und aus den glänzenden Falten ihres Kleides.

Der Winter war inzwischen auf dem Brocken angelangt, und wurde von der höllischen Majestät daselbst eigenhändig mit dem allerdicksten Nebelmantel bekleidet. Darauf strich er langsam über die Höhen dahin und wälzte sich schwerfällig in’s Thal hinab. Zum Anfang war er gar nicht so übel, machte Sammtpfötchen und wollte sich einschmeicheln, zog den Bäumen und Sträuchern von weißem Reif schimmernde

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Marie Petersen: Prinzessin Ilse. Alexander Duncker, Berlin 1857, Seite 30. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Prinzessin_Ilse_(Marie_Petersen).pdf/33&oldid=- (Version vom 1.8.2018)