Seite:Ramdohr-Venus Urania-Band 3.1.djvu/319

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Die Geschichte dieses Herzens muß aber in zwey Perioden eingetheilt werden: in diejenige, worin er an der Delia und Nemesis, den Weibern zweyer Freygelaßnen, gehangen, und in einer andern entehrenden Verbindung gestanden hat: dann in diejenige, worin er sich um die Hand und das Herz der Neära beworben hat. [1] Ob diese beyden Perioden auf einander gefolgt sind, oder ob er erst die Delia, dann die Neära, und endlich wieder die Nemesis geliebt habe; darüber läßt sich nichts mit Gewißheit bestimmen, und nach dem Gange des menschlichen Herzens zu urtheilen, ist das eine ungefehr so glaublich als das andere. Man kann fallen, steigen und stehen bleiben: man kann auch wieder, aus einer edeln Leidenschaft, vorzüglich wenn man betrogen wird, in vorige Verirrungen zurückfallen.

Ich sehe die Verhältnisse, worin Tibull mit der Delia und Nemesis gestanden hat, als den minder edeln Theil der Geschichte seines Herzens an. Daß auch der zärtlichste Mensch nicht damit anfängt, sich durch solche Gründe in seiner Wahl bestimmen zu lassen, die seine Anhänglichkeit rechtfertigen: daß gemeiniglich Sinne, Eitelkeit, Leere, Trieb nach engerer häuslicher Verbindung, kurz! Geschlechtssympathie des Körpers und der Seele dem Herzen erst den Weg


  1. Ich setze nicht den mindesten Zweifel darein, daß Tibull diese Neära wirklich geliebt habe, obgleich Ovid nur von der Delia und Nemesis redet, und diese letzte sagen läßt, daß sie bey seinem Tode noch sein Herz besessen habe. Die Antwort ist: daß der Dichter zu seinem Drama nur diese Beyden brauchte. Und ohnehin sagt Ovid selbst, daß er den Tibull nicht genau gekannt habe.