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Walther Kabel: Raubtiere als Beschützer ihrer Herren. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1913, Bd. 12, S. 215–219

Tigerin ein paar derartige Ohrfeigen, daß ihr die Lust zu jedem weiteren Angriff verging. Es waren kaum ein paar Minuten verflossen, bis das Licht wieder eingeschaltet wurde; aber diese Minuten erschienen mir wie eine kleine Ewigkeit. Nachher konnte ich meine Vorführungen ruhig beenden. Die Tigerin war wieder ganz brav geworden. In Zukunft war ich aber doch vorsichtiger und trug stets einen geladenen Revolver in der Kleidertasche. Denn wir Bändiger lassen es das Publikum ungern merken, daß unsere vierbeinigen Schüler doch nicht so ganz ungefährlich sind, wie es dem Laien scheint.“

Tiger sind überhaupt die Schmerzenskinder der Bändiger. Hinrichson führte vor wenigen Jahren regelmäßig zum Schluß seines Dressuraktes einen mächtigen bengalischen Tiger namens Nero vor, dessen furchtbare Wildheit er trotz aller Versuche nur so weit hatte brechen können, daß er die zähnefletschende Bestie unter atemloser, banger Stille des Publikums einmal vor sich her um den Manegenkäfig trieb, und dies unter ganz ungewöhnlichen Vorsichtsmaßregeln. Zu letzteren gehörte auch, daß Hinrichson zu seinem Schutz stets seinen Lieblingslöwen Pascha im Käfig behielt, während die anderen Raubtiere vorher in ihre Transportbehälter zurückgetrieben wurden. Pascha saß dann regelmäßig auf einer der Holzsäulen, die mit den anderen Dressurgerätschaften in der Mitte der Manege auf einem Haufen zusammengerückt wurden.

Bei einer Vorstellung in Petersburg war es, wo Hinrichson beinahe ein böses Schicksal ereilt hätte. Wie immer schloß Hinrichson seine Nummer mit der Vorführung des Tigers Nero. Eine nervöse Dame brach beim Anblick der fauchenden und sich ungewöhnlich wild gebärdenden Bestie, die gerade ihren schlechten Tag hatte, plötzlich in Schreikrämpfe aus. Durch diese gellenden Töne wurde der Tiger offenbar zur höchsten Wut gereizt. Er duckte sich zum Sprunge zusammen und hätte den Bändiger sicher niedergeworfen und zerfleischt, wenn dieser nicht in der Erkenntnis, daß er die Gewalt über das Tier völlig verloren hatte, sich blitzschnell hinter die aufgestellten Gerätschaften geflüchtet haben würde. In demselben Augenblick sprang auch schon der Löwe Pascha, ohne daß sein

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Walther Kabel: Raubtiere als Beschützer ihrer Herren. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1913, Bd. 12, S. 215–219. Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1913, Seite 218. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Raubtiere_als_Besch%C3%BCtzer_ihrer_Herren.pdf/5&oldid=- (Version vom 1.8.2018)