Seite:Reden und Vorträge 158.jpg

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führe, wer ahnt es? Eines nur wissen wir: die Treue halten wir und werden wir halten. Aber was dieses neue Jahrhundert an Leid und Freud uns beschwert und bescheren wird, heut ist nicht die Stunde dessen zu gedenken. Rückwärts schaut unser Blick, abrechnen wollen wir, wir wollen danken.

Und da ist schon das Größeste gesagt, wenn wir anerkennen, daß der Tod des ersten deutschen Kaisers das Ende des Jahrhunderts bezeichnet, das mit der französischen Revolution begann. Das weist zunächst auf die politische Erhebung Deutschlands; aber wollten wir sie auch nur vornehmlich ins Auge fassen, so würde das unzutreffend sein, schon weil diese Bewegung nur wenige Jahrzehnte füllt. Was immerdar im Gedächtnisse der Menschen den Hauptinhalt des 19. Jahrhunderts bilden wird, das ist freilich die Erhebung Deutschlands zu einer Weltmacht, aber nicht nur politisch, sondern durch all das Unübersehbare, was die deutsche Arbeit, die der Hand und die des Hirnes, geleistet hat, für uns und für die ganze Menschheit. Wir sagen das nicht in dem nationalistischen Dünkel, den jeder Deutsche, der die wirkliche Geschichte seines Volkes leidlich kennt, verabscheut. Wir haben nur die Freude, daß wir den Völkern älterer Kultur die Schuld der Dankbarkeit für jahrhundertelange Belehrung und Erziehung heimgezahlt haben und ihnen endlich ebenbürtig geworden sind. Voller Bewunderung und auch ohne jede Regung des Neides sehen wir, wie das russische Volk sich in derselben Spanne Zeit neben uns machtvoll erhoben hat, herrschend vom finnischen Meere bis an den Stillen Ozean, wie es über den Kaukasus und den Oxus und Iaxartes hinab gezogen ist, arische Kultur tragend über die Steppen Turans, aus denen so oft kulturmordende Horden westwärts gezogen waren, bis es die Spuren des großen Alexander erreichte. Und wohl noch Größeres ist es, daß dieses Volk, dessen Gebildete sich vor hundert Jahren der heimischen Sprache schämten, nun Dichtungen aufzuweisen hat, denen alle Gebildeten lauschen.

Empfohlene Zitierweise:
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Neujahrsrede 1900 in der Friedrich-Wilhelm-Universität. Weidmannsche Buchhandlung, Berlin 1901, Seite 158. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reden_und_Vortr%C3%A4ge_158.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)