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wieder müssen wir beklagen, dass Heinrich von Treitschke uns dieses Jahr nicht mehr hat erzählen können, wie er denn der einzige wäre, der heute würdig von diesem Platze reden könnte: er war durch den Fortgang seines herrlichen Geschichtswerkes immer mehr befähigt worden, jedes Streben zu begreifen und anzuerkennen, das dem großen Ganzen redlich gedient hatte. Hoffen wir, daß ein anderer es verstehen werde, diese Lücke in der Kenntnis und Schätzung unserer eigenen Vergangenheit zu füllen. Das aber kann man vorgreifend sagen, daß das deutsche Volk niemals eine seiner würdigere Vertretung gehabt hat als in der Paulskirche. Und was die Ergebnisse der Revolutionszeit angeht, so stünde es dem Preußen gerade übel an, sie gering zu schätzen. Ist doch unsere Verfassung, die in wenig Tagen das erste halbe Jahrhundert ihres Bestehens erlebt, auch eine ihrer Früchte, und wäre es nicht die nackteste Undankbarkeit, wenn man leugnete, daß sie sich bewährt hat, vielleicht gerade deshalb, weil sie bei ihrem Erscheinen kaum einen befriedigte?

Nichts hört man gegen die Männer von 1848 häufiger aussprechen als den Vorwurf des Doktrinarismus. Gewiß ist er nicht unverdient, nur gilt er viel weiter. Es war aus dem großartigen Aufschwung von Poesie, Philosophie und Wissenschaft eine Überschätzung der intellektuellen Bildung erwachsen, so daß man von dem Manne, wenn er für voll gelten wollte, eine ganz bestimmte Summe von Kenntnissen verlangte, und zwar von der Art, die jene klassizistisch und philosophisch gerichtete Zeit vor allem schätzte. Diesen Anschauungen kam der Staat bereitwillig entgegen, so mißtrauisch er jede Initiative der Bürger ansah. So ward ein Ideal von allgemeiner Bildung aufgestellt, deren Vollbesitz, oder wenigstens seine staatliche Bescheinigung, den „gebildeten Menschen“, das deutsche Äquivalent des englischen Gentleman, machen sollte. Und dann stufte man neue Kasten ab, je nachdem jemand drei oder auch nur ein Fünftel dieser Bildung erhalten hatte. Und es wurden im Gegensatz zu früherer Roheit Bildungshochmut

Empfohlene Zitierweise:
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Neujahrsrede 1900 in der Friedrich-Wilhelm-Universität. Weidmannsche Buchhandlung, Berlin 1901, Seite 162. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reden_und_Vortr%C3%A4ge_162.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)