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und Bildungsheuchelei spezifisch deutsche Laster. Ein Papier mit dem ominösen Namen Maturitätszeugnis ward der neue Adelsbrief, und mancher scheute sich, seinen Nebenmenschen als gleichberechtigt anzuerkennen, weil ihm die Gelegenheit gefehlt hatte, die Verba auf mi und die Kettenbrüche gleichfalls zu vergessen. Demgegenüber kann der Segen nicht hoch genug geschätzt werden, und eine Stätte intellektueller Bildung hat erst recht die Pflicht zu rühmen, daß doch eine Institution bestand, die Erziehung bot, wie sie jedem not thut, durch Gehorsam zur Selbstständigkeit, durch Dienst zur Freiheit: das preußische Heer. Dies Heer blieb denn auch aufrecht stehen, als so vieles im Staate zerbrach, bewahrte seinem Kriegsherrn mit Selbstüberwindung die Treue und zertrat rasch die Brände offener Rebellion. Leider konnten die klugen und feinen Geister in Frankfurt dieses Heer wirklich nicht kennen, und die öffentliche Meinung blieb eingeschworen auf die englische Verachtung des Kriegsdienstes und wähnte, mit Spiel und Sport in Schützen- und Turnvereinen dasselbe zu leisten. So konnte das Widersinnige geschehen, daß die volkstümlichste Maßregel, die die nationale Hochschule wirklich allen preußischen Jünglingen erschließen wollte, auf den Widerstand des Volkes stieß. Und wenn die großen Siege des Heeres dann auch das Urteil König Wilhelms rechtfertigten, den noch die spätesten Enkel als die Verkörperung der Tugenden des preußischen Offiziers verehren werden, so ist die Vorstellung doch nicht ausgerottet, daß wir das Heer für den Krieg unterhielten. Wir wollen gar keinen Krieg, wenn wir auch wissen und loben, daß die Natur der Gewitterstürme nicht entraten kann. Aber wenn sich auch die lange Friedenszeit, deren wir uns erfreuen, noch weithin ausdehnen sollte, unseres Heeres können wir nimmer entraten, damit wir ein Volk von Männern bleiben. Denken wir uns einmal den Typus des modernen deutschen Mannes, wie er Pflugschar, Hammer und Mauerkelle führt, und daneben den Typus seines Urgroßvaters. Jener trug immer noch die Züge,

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Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Neujahrsrede 1900 in der Friedrich-Wilhelm-Universität. Weidmannsche Buchhandlung, Berlin 1901, Seite 163. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reden_und_Vortr%C3%A4ge_163.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)