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die die volkstümliche Kunst der Reformationszeit als Karsthans so oft gebildet hat; hier sehen wir selbstbewußte, aufrechte Männer, wie sie die Gildenbilder von Rembrandt und Franz Hals in den wetterfesten freien Niederländern zeigen. Und wenn auch die Zunahme des materiellen Wohlstandes das Ihre gethan hat und die politische Befreiung und geistige Anregung dem Auge die Blödigkeit genommen hat: daß der Nacken so gerade, die Brust so frei und der Blick so klar ist, das verdankt der deutsche Mann dem Gefühl der Mannesehre, das ihm die Erziehung des Heeres eingepflanzt hat.

Das ist die wahre und wirklich befreiende allgemeine Bildung des Volkes. Sie ihm aufgezwungen zu haben, bleibt ein Ruhmestitel des Staates. Daneben müssen wir auch solcher Männer dankbar gedenken, die von den ästhetischen und klassizistischen Idealen wenig wußten oder wenig hielten und die wohlmeinende, aber über jedes Sachverständnis erhabene Bevormundung der gelehrten Beamten selten als eine Förderung empfanden, aber den praktischen Berufen und der praktischen Tüchtigkeit zum Heile des Ganzen die Macht und das Ansehen errungen haben, die ihnen zukommt. Der deutsche Handel hatte von seiner alten Blüte nur an den Mündungen unserer Ströme und einigen Knotenpunkten des Verkehres einiges in das neunzehnte Jahrhundert gerettet. Gewerbfleiß gab es für den Export nur verschwindend wenig und weite Strecken verharrten noch lange in der Abhängigkeit vom Auslande, wie der Barbar, der dem fremden Schiffer seine Rohprodukte gegen die fremde Ware dahingiebt. Die Landwirtschaft hatte höchstens vereinzelt begriffen, daß sie auch ein industrieller und kaufmännischer Betrieb ist. Und nun hat die Energie des deutschen Kaufmanns die deutsche Ware, längst bevor eine deutsche Flagge sie deckte, über alle Meere getragen, und seine Klugheit und Redlichkeit unsern Namen unter allen Breiten zu Ehren gebracht. Jetzt vermag weder die Vermehrung der Bevölkerung noch die des Kapitales den Anforderungen der

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Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Neujahrsrede 1900 in der Friedrich-Wilhelm-Universität. Weidmannsche Buchhandlung, Berlin 1901, Seite 164. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reden_und_Vortr%C3%A4ge_164.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)