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überhaupt erst entstanden ist, und durch sie der Blick in ungemessene Zeiträume eröffnet, von denen keine Überlieferung dauern konnte – oder doch eine, in den Überresten vorgeschichtlichen Lebens in Wohnplätzen und Gräbern. Und indem diese Reste sorgfältig durchforscht werden und dazu herangezogen, was kundige Beobachtung an primitiven Völkern der Gegenwart gewonnen hat, gelingt es, selbst in das Seelenleben der Menschen der Urzeit hineinzublicken und so tiefe Probleme wie die Genesis der Religion aufzuwerfen. Dazu leihen sich was man als Natur- und Geschichtswissenschaft unterscheidet einträchtig die Hand. So zeigt sich an einem Beispiel, das sich zufällig bietet, daß die beliebte Zerspaltung der Wissenschaft unhaltbar ist. Die Verschiedenheit der gerade angepackten Objekte macht für die wissenschaftliche Methode nichts aus. Auf das erste, die Gewinnung des Materiales, muß immer die Analysis folgen. Wir verhören das einzelne Objekt und entlocken ihm mit allen Mitteln, was es uns irgend aussagen kann. Zu diesen Mitteln gehört die experimentelle Untersuchung so gut wie die philologisch-historische Kritik. Dann kommt die Synthesis der an den Einzelobjekten gewonnenen Erkenntnisse. Da wird das Ergebnis sich bald als ein Gesetz darstellen: das kann so gut ein Naturgesetz sein wie das, nach dem ein Dichter seine Verse gebaut hat: bald wird sich die Reihe der geordneten Objekte durch die nachschaffende Phantasie als ein vergangener Werdeprozeß darstellen. Dieselbe Thätigkeit des Geistes liest die Entstehung der Erdrinde in der Lagerung und den Gesteinen ihrer Schichten, und in den sachlichen und sprachlichen Differenzen ihrer Schichten die Entstehung der Ilias. Man hat wohl gesagt, daß die Sprachwissenschaft durch die Entdeckung der Gesetze des Lautwandels eine Naturwissenschaft geworden wäre; man könnte mit gleichem Rechte sagen, daß Darwin die Naturwissenschaft historisiert hätte. Beides ist im Grunde ein leeres Gerede, weil die Wissenschaft eine Einheit ist.

Das ist sie, weil ihr Objekt im Grunde eines ist, das

Empfohlene Zitierweise:
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Neujahrsrede 1900 in der Friedrich-Wilhelm-Universität. Weidmannsche Buchhandlung, Berlin 1901, Seite 169. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reden_und_Vortr%C3%A4ge_169.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)