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ihr Vater viel Liebe und Weichheit in sich trug, bei aller Schroffheit gegen das, was er nicht anerkennen und nicht dulden wollte. Eine namenlose Sehnsucht erwachte in ihr nach all der Liebe, die sie einander nie gegeben hatten. Hätte sie ihm das nur einmal noch sagen dürfen, aber er wußte nicht, daß sie hier war. Und sie dachte an ihre Mutter — war sie jemals eine Mutter gewesen, diese kalte, fremde Frau, die ihr nur sagen ließ: geh, woher du gekommen bist?

Als Ellen gegen Abend wieder zurückkam, wartete ihr älterer Bruder auf sie: der Vater war gestorben, und nun durfte sie kommen, um ihn noch einmal zu sehen. Wortlos gingen sie nebeneinander her bis zu dem großen, fahlgelben Gebäude und die stille Treppe hinauf. Erik ließ sie allein im Zimmer — da drüben auf dem weißen Bett lag er kalt und starr — eingefallen und verändert —. Das war nicht mehr ihr Vater, es war etwas Furchtbares, Unheimliches, das ihr einen eisigen Schauer nach dem andern durch die Seele trieb. Sie kniete vor ihm nieder, versuchte ihn anzusehen, etwas von ihm wiederzufinden — immer wieder stieg das eine Bild vor ihr auf, wie sie ihm zum letztenmal gegenübergestanden hatte im Kampf um ihre Jugend und ihre Freiheit. Jetzt hatte sie gesiegt, und er lag tot. — Allmählich kam ein hilfloser Schmerz über sie, sie legte den Kopf auf sein Bett und weinte.

Dann stand der Bruder plötzlich hinter ihr, und der Geistliche war auch wieder da und redete mit schriller Stimme von Vergebung und von dem Herzen, das da ausgeschlagen hatte. Erik zog sie aus dem Zimmer hinaus und begleitete sie durch die stillen dunklen Straßen zurück.

Am nächsten Abend stand Ellen zu später Stunde vor dem Gartengitter ihres Elternhauses, es hatte sie hergetrieben, ob sie wollte oder nicht, noch einmal Abschied zu nehmen von den letzten Heimatsgedanken. — Durch die offnen Fenster, vor denen leichte, weiße Vorhänge hin und her wehten, sah sie alle bei der Lampe sitzen und hörte die Stimmen.

Empfohlene Zitierweise:
Fanny Gräfin zu Reventlow: Ellen Olestjerne. München: Albert Langen, 1925, Seite 611. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reventlow_Werke_0611.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)