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20
Denn kleine und große Sünden sind gleich ernst,
21
wird doch in beiden Fällen das Gesetz gewissermaßen gleich mißachtet.
22
Du spottest über unsere Philosophie,

als ob wir darin nicht nach gesunder Vernunft lebten.

23
Sie lehrt uns doch Mäßigung,

so daß wir über alle Lüste und Begierden herrschen;
sie übt uns in Starkmut
so daß wir jeden Schmerz freiwillig erdulden.

24
Sie erzieht uns in Gerechtigkeit,

so daß wir in allen Stimmungen gleichmäßig handeln;
sie unterweist uns in Frömmigkeit,
so daß wir allein den seienden Gott ehrfurchtsvoll verehren.

25
Deshalb essen wir nichts Unreines;

wir glauben zwar, daß das Gesetz eine Sache Gottes ist;
wir wissen aber auch,
daß der Weltschöpfer seiner Natur nach mit uns empfindet.

26
Er gestattete, das, was sich unserer Seele anpassen würde, zu essen;

dagegen verbot er den Genuß unpassender Speisen.

27
Gewalttätig ist es,

uns nicht bloß zur Gesetzesübertretung zu zwingen;
wir sollen auch noch deshalb essen,
damit du dich über den uns tiefverhaßten Genuß unreiner Speisen
lustig machen kannst.

28
Über mich freilich sollst du nicht lachen können.
29
Auch werde ich niemals die heiligen,

auf die Gesetzestreue abgelegten Eide der Vorfahren brechen,

30
selbst dann nicht,

wenn du mir die Augen ausreißen und die Eingeweide verbrennen wirst.

31
So greisenhaft unmännlich bin ich nicht,

daß sich mir die Vernunft nicht verjüngen könnte,
wo es sich um Frömmigkeit handelt.

32
Darum rüste die Folterräder!

Fache das Feuer noch stärker an!

33
So stark ist mein Mitleid mit meinem Greisenalter noch nicht,

daß ich das väterliche Gesetz aus eigener Machtvollkommenheit aufhöbe.

34
Nicht belügen will ich dich, du Gesetz, mein Erzieher;

nicht dich fliehen, Freundin Selbstbeherrschung,

35
nicht dich schänden, weisheitliebende Vernunft,

nicht dich verleugnen, hochwürdiges Priesteramt und Gesetzeswissen.

36
Und du, Mund, sollst nicht mein ehrwürdiges Alter

noch die Vollreife eines gesetzestreuen Lebens beflecken!

37
Meine Väter sollen mich fehllos zu sich aufnehmen,

ohne daß ich vor deinen Todesmartern gebebt hätte!

38
Gottlose magst du beherrschen;

aber weder mit Worten noch mit Taten
darfst du über die Gebote meiner Vernunft,
wenn die Religion auf dem Spiel steht, regieren.