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und den eine Menschenmenge wegen der Foltern besetzt hielt;
aber du hattest keine Tränen.

21
Nicht Sirenenstimmen,

nicht Schwanengesang locken die Hörer so zum Aufmerken,
wie die Rufe gequälter Kinder, die nach der Mutter schreien.

22
Wie schlimm und arg müssen die Qualen der Mutter gewesen sein,

als man ihre Kinder mit Rädern und Feuer peinigte?

23
Aber die gottgeleitete Vernunft wandte mitten in den Trieben

ihr Herz mutig dem Entschlusse zu,
die zeitliche Mutterliebe nicht zu beachten.

24
Trotzdem sie den Untergang von sieben Kindern

und die vielfältigste Folterung schauen mußte,
winkte ihnen die edle Mutter den Abschiedsgruß zu
und entließ sie im Glauben an Gott.

25
Als stünde sie im Rathaus,

so schaute sie in ihrer Seele die gestrengen Ratsherren,
Natur, Mutterschaft, Kinderliebe und Folterung der Kinder.

26
Nun hielt sie, die Mutter, zwei Stimmsteinchen in der Hand,

ein todbringendes und ein die Kinder rettendes.

27
Und doch wählte sie nicht das, das die sieben Söhne auf kurze Zeit rettete.
28
An des gottesfürchtigen Abraham Standhaftigkeit dachte vielmehr seine Tochter.
29
O Mutter des Volkes!

Rächerin des Gesetzes und Beschirmerin der Frömmigkeit!
Du Sieggekrönte im Kampf mit dem Mitleid!

30
Edler in Standhaftigkeit als Mannen;

mannhafter in der Ausdauer als Männer!

31
Wie die Arche Noes in der weltüberschwemmenden Flut die Welt in sich barg

und die gewaltigen Wogen aushielt,

32
so warst auch du, Gesetzeswächterin,

von allen Seiten in der Triebe Flut umbrandet
und von gewaltigen Stürmen, deiner Söhne Qualen, bedräut,
und dennoch hieltest du wacker Stand
den über die Frömmigkeit herbrausenden Stürmen.


16. Kapitel: Ihr Beispiel
1
Konnte also ein Weib, noch dazu Greisin und Mutter von sieben Söhnen,

den Todesqualen ihrer Söhne zusehen und doch standhalten,
dann ist selbstverständlich die gottgeleitete Vernunft
die Selbstherrin der Triebe.

2
Den Beweis habe ich nun erbracht,

nicht nur, daß Männer ihre Triebe beherrschten,
sondern auch, daß ein Weib die größten Qualen verachtete.

3
Ja, so grimmig waren nicht die Löwen um Daniel,

noch Misaels Feuerofen mit seinem ungestümen Feuer so brennend heiß,
als die natürliche Mutterliebe,
die jenes Weib beim Anblick seiner sieben gefolterten Söhne umloderte.
Doch mit der frommen Vernunft
löschte die Mutter die so gewaltigen und starken Triebe.