Seite:SUST MSFou XXXV, 1.djvu/4

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

müssen, und ich fasse diesen zusammenhang so auf, dass das europäische märchen nach dem asiatischen zusammengesetzt worden ist. Der viel entwickeltere stand des ersteren und auch einige andere umstände zeigen, dass es jünger als das letztere ist. Nachdem das asiatische märchen in Europa bekannt geworden war, wurde hier nach demselben ein neues märchen geschaffen, zu dessen grundgedanken das verhältnis zwischen den haustieren und den tieren des waldes genommen wurde. In dem neuen märchen wurde nach möglichkeit versucht sogar einzelne züge des modells beizubehalten, doch wurden diese in den neuen rahmen der erzählung eingepasst. Die in dem europäischen märchen hinzugekommene darstellung der übernachtenden als verschiedene handwerker hat sich aus dem neuen Grundgedanken der erzählung sowie aus der für die tötung in dem asiatischen märchen eingetretene verjagung ergeben. Da die schwächeren haustiere als die verjagenden und die stärkeren tiere des waldes als die entfliehenden auftreten, ist es natürlich, dass sich diese inbezug auf jene einem irrtum hingeben und sie sich als gefährlichere gegner vorstellen, als sie in wirklichkeit sind.

Aus dem vorstehenden folgt, dass das asiatische märchen schon vor der entstehung des europäischen in Europa bekannt gewesen ist. Im hinblick hierauf kann es befremdend erscheinen, dass das letztere dennoch viel allgemeiner verbreitet ist als das erstere. Das beruht durchaus auf der verschiedenen anziehungskraft der märchen. Das asiatische märchen erscheint trocken, während das europäische im höchsten grade zu fesseln und das interesse des hörers rege zu halten vermag.

In dem alten lateinischen tierepos Ysengrimus, das ein flandrischer dichter Nivardus um die mitte des 12. jahrhunderts n. Ch. verfasste, ist das europäische märchen von den auf der wanderschaft befindlichen haustiere mit einem anderen tiermärchen verbunden.[1] Auch da vertreiben die haustiere die wölfe, aber der anlass der flucht ist eine list der haustiere. Dasselbe märchen kommt auch im volksmunde vor, besonders in Russland und Finnland.


  1. Ysengrimus, hrsg. von E. Voigt (1884), s. 194.
Empfohlene Zitierweise:
Antti Aarne: Beiträge zur frage nach dem verhältnis zwischen den morgen- und abendländischen märchen. Société Finno-ougrienne, Helsinki 1914, Seite 4. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:SUST_MSFou_XXXV,_1.djvu/4&oldid=- (Version vom 1.8.2018)