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Sein hauptinhalt ist folgender: Ein widder und ein ziegenbock geraten bei einem feuer mit wölfen zusammen. Sie zeigen den wölfen mehrere male einen und denselben von ihnen mitgenommenen wolfskopf und erwecken dadurch in jenen die vorstellung, dass sie eine ganze anzahl solcher hätten. Die wölfe glauben grausamen mördern in die hände gefallen zu sein und entfliehen entsetzt. Nach einiger zeit aber kehren sie zurück. Die haustiere sind mittlerweile auf einen baum gestiegen, von dem der widder herabfällt, wodurch die wölfe abermals in die flucht gejagt werden.[1] In dem französischen Roman de Renart[2], der ebenfalls aus dem 12. jahrhundert stammt, liegt eine ähnliche verknüpfung der märchen vor. Die erzählung des Roman de Renart ist in der hinsicht unvollständig, dass da die episode von dem wolfskopf fehlt, doch ist die besteigung des baumes und das herabfallen erhalten.

Dieses europäische märchen oder richtiger sein erster teil, der wolfskopf als schreckmittel der wölfe, ist wahrscheinlich gleichfalls nach orientalischem vorbild abgefasst. Der russe L. Kolmačevskij[3] und der franzose L. Sudre[4] machen auf die ähnlichkeit zwischen diesem märchen und einer alten orientalischen geschichte aufmerksam. Am nächsten steht dem europäischen märchen die bearbeitung der erzählung in Dubois’ Pantschatantra.[5] Ein ziegenbock kommt in eine höhle, wo er einen löwen findet. Beim anblick des langen bartes des bocks fragt der löwe, wer er sei, und erhält die antwort: Ein verehrer des gottes Çiva, der das gelübde getan hat seinen bart so lange wachsen zu lassen, bis er zu ehren des gottes 101 tiger, 25 elefanten und 10 löwen verzehrt hat. Jetzt suche er nach den löwen, die er noch nicht gefressen habe. Der erschrockene löwe entflieht, kehrt aber mit einem fuchs und durch diesen ermutigt nach einiger zeit zurück. Als der bock die tiere kommen sieht, begreift er die situation und ruft dem fuchs zu: „Ich habe dich


  1. Märchentypen Nr. 125.
  2. Sudre, L., Les sources du Roman de Renart (1893), s. 205.
  3. Kolmačevskij, L., Животный эпосъ на западѣ и у славянъ (1882), s. 237.
  4. Sudre, L., s. 215.
  5. Benfey, Th., Pantschatantra 1 (1859), s. 507.
Empfohlene Zitierweise:
Antti Aarne: Beiträge zur frage nach dem verhältnis zwischen den morgen- und abendländischen märchen. Société Finno-ougrienne, Helsinki 1914, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:SUST_MSFou_XXXV,_1.djvu/5&oldid=- (Version vom 1.8.2018)