Seite:Samuel zieht die Bilanz und Tomi melkt die Moralkuh oder Zweier Könige Sturz.pdf/24

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nicht schweigend vor dem Spiegel. Samuel, unser aller Rächer und Richter. Er zog Bilanzen. Er redete Weltanschauung. Orakelte mit den Aermchen seine Gedanken in die Luft. Erdolchte falsche Götter. Wanzte die ganze deutsche Literatur durch. Kurz, machte es wie Jehova am Posaunentage: die Böcke zur Rechten, die Schafe zur Linken. Er kollerte wie ein Streithähnchen: Kikeriki, Symbolismus, Neuromantik, Idealismus, sagte er. Und sagte: differenziert, eigene Note und Persönlichkeit. Oder sagte auch: Menschheit und Entwickelung des Menschengeschlechts. Er käute Literatur. Er spie Wortwürmchen aus und aß zwischenhinein an einer Kalbshaxen. Denn – so sagte er – er sehne sich endlich nach Erdscholle, Wurzelständigkeit und Lokalkolorit. Und er sah nichts und hörte nichts und wußte noch viel weniger und ahnte nicht das Allermindeste... Aber, o Gott, er redete. Er zog die Bilanz...

3.

Richtig, da saß er und hatte gleich sein liebes Schwesterlein mitgebracht, das den kleinen Samuel betreute und fütterte und an den hohen Feiertagen wohl auch einmal wusch. Bescheiden, still, gütig, ein unterirdisches Alt-Fräulein. Sie blickte gottergeben, schwärmerisch zu dem ewig redenden Brüderchen auf, das garnicht sah, wie sie ihm all die guten Häppchen vorschnitt. Ein bischen schwärmerisch, aber auch ein bischen kritisch und wieder auch ein bischen flehend, als sagten die alten Fräuleins-Augen: O, bitte, widersprechen Sie doch Samuelchen nicht! Er wird dann gleich so aufgeregt und schläft so schlecht, und das Essen bekommt ihm nicht. Sie ahnen nicht, wie Samuelchen ist. Schon auf der Schulbank der Stolz von ganz Pinne. Er tut man nur so bös, wenn er sich abjachtern und dem Menschengeschlecht die Bilanz ziehen muß. Wenn er aber nicht bedeutend ist, dann kann er ganz nett sein! So flehten die besorgten Augen des alten Fräuleins, die viel feiner, ahnender und klüger waren, als ihr großes Brüderlein, das, ach, gar so furchtbar klug redete, als sei es nur aus Versehen ein menschlich Gebürtchen geworden. Denn eigentlich einmal hatte sein liebes Väterchen an einem schönen Schabbes ein kleines Talmudtraktätchen erzeugen wollen, aber aus Versehen ist aus dem knifflig rabbinischen Büchlein ein kluges Samuelchen geworden. Und ich dachte mir, Liebe ist das beste Augenwasser. Ich werde mir dies liebe Talmud-Mißgebürtchen mit seinen hypertrophisch entarteten Schreib- und Redezentren