Seite:Schiller-Galerie.pdf/290

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
TALBOT.
(Die Jungfrau von Orleans.)


Sehen wir in der Jungfrau die Macht des Glaubens personificirt, wie sie siegend alles vor sich niederwirft, wie alle materielle Kraft, alle Mittel des Verstandes, der Kriegs- und Staatskunst nichts gegen dieselbe vermögen und ihre unmessbare, unberechenbare Gewalt, so brauchen doch diese Kräfte des Widerstandes einen Repräsentanten, geeignet, ihre Bedeutung in das hellste Licht zu setzen, um den Triumph der erstern um so glänzender zu machen.

Dieser Gegensatz der Jungfrau ist in Talbot gegeben, der alles das in Fülle hat, was dem unerfahrenen Mädchen fehlt: die reichste Erfahrung, das sichere Selbstbewusstsein eines sieggewohnten Feldherrn, einen wahrhaft grossartigen Sinn, unbesiegbaren, trotzigen Löwenmuth, unverlierbare Gegenwart des Geistes, und das alles durchdrungen und beseelt von der schneidendsten Schärfe des Verstandes, an dem er alle andern Charaktere des grossen Gemäldes weit überragt. Aber gerade diese unerbittliche Logik des Gedankens in der unbeugsamen Heldennatur, die uns so imponirt, ist machtlos gegen den Enthusiasmus des Glaubens; denn während dieser das Disparateste verbindet und die starre Eisrinde spröder Naturen schmelzt mit seiner Glut, kann jene schneidige Schärfe gar oft blos trennen und also isoliren, anstatt zu verbinden.

Diese verhängnissvolle Wirkung lernen wir denn auch gleich kennen beim ersten Auftreten des Feldherrn: er erklärt den Schreck der Soldaten ganz richtig für Narrheit, beleidigt aber dabei den Alliirten durch das Heraustretenlassen jenes vorherrschenden Charakterzugs, den echt englischen Stolz, die Härte und Schonungslosigkeit. Liest man diese Streitscene mit dem Herzog von Burgund, so werden unsere

Empfohlene Zitierweise:
Friedrich Pecht: Schiller-Galerie. F. A. Brockhaus, Leipzig 1859, Seite 265. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller-Galerie.pdf/290&oldid=- (Version vom 1.8.2018)