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bald schwärmerische und hinreissende, von geistigem Reichthum übersprudelnde Jüngling mit dem Glanz des Genie auf der bleichen Stirn Herz und Sinn des erwachenden Mädchens gleich sehr gefangen nimmt. Aeusserlich schien freilich die Sache gerade umgekehrt zu sein; das junge, lebensfrohe und muthwillige Fräulein, durch den täglichen Verkehr am Hof und in den adelichen Cirkeln der Nachbarschaft gesellig viel gewandter und weltläufiger, als der scheue, leichtverletzte Dichter, scheint ihn zu lenken, ihn um so mehr am Schnürchen zu haben, als das ganze Verhältniss eine officiell blos freundschaftliche Form hat, und sich die beiden ihre Neigung schwerlich auch nur selbst gestanden haben. Eigentlich hätte ihn die ältere Schwester Karoline, die Begabtere und Talentvollere der beiden, fesseln müssen, da er bei ihr und ihrem starken Bildungstrieb mehr Anknüpfung und reifes Verständniss fand; aber man sucht ja nie, was man selber schon hat, und so trug denn auch die frische Natur in der Person der Jüngern einen Sieg über die Cultur der Aeltern in seinem Herzen davon. Nicht als ob Lotte nicht auch eine für die damalige Zeit sehr auffallende feinere Bildung genossen, viel mehr gelernt und gelesen hätte, als sie jetzt noch verstand; aber das Wissen hatte noch keine sonderliche Wirkung auf sie ausgeübt, es war noch nicht lebendig geworden, die Reflexion hat noch wenig an dem jugendlich heitern Naturell geändert, das alles noch im goldenen Morgenschein des eigenen warmen Gefühls sieht und in seiner Weise idealisirt wie der Denker Schiller, der sich sogar bewogen findet, ihr einmal zu sagen: „Ein Geist wie der Ihrige sucht die Dinge in einer gewissen Entfernung, in einem schönern Lichte als sie wirklich haben – Sie finden aber selten solche Menschen wie Sie.“

Durch die Liebe zu dem Dichter erwacht aber nun ihr Bildungstrieb gewaltig, sobald der Winter ihn wieder weggeführt hat; sie will seiner würdig werden, und es macht einen drolligen Eindruck, wie sie dabei nun nach Mädchenart zunächst vom Hundertsten aufs Tausendste kommt: in einem Briefe lustig von Schiller zu Gibbon hüpft, von ihm auf die christliche Religion gebracht wird, diese verlässt, um Plutarch

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Friedrich Pecht: Schiller-Galerie. F. A. Brockhaus, Leipzig 1859, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller-Galerie.pdf/35&oldid=- (Version vom 1.8.2018)