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Hier, hier herrschte Karl wie ein Gott in seinem Tempel, Karl stand vor dir im Wachen, Karl regierte in deinen Träumen, die ganze Schöpfung schien dir nur in den Einzigen zu zerfliessen, den Einzigen widerzustrahlen, den Einzigen dir entgegenzutönen.

In diesem allmächtigen Gefühl der Liebe geht ihre schwärmerische Seele ganz auf, an ihm, dem Einzigen, hängt sie mit unerschütterlicher Treue, bei allen Verdächtigungen des Bruders, die sie eher als solche erkennt denn der leichtgläubige Vater, welchem gegenüber sie den Geliebten muthig vertheidigt. Die Liebe, die uns alle verwandelt, gibt ihr also bald Muth und Stärke, macht sie zur Heldin, lehrt sie den Listigen durchschauen und den Schlechten verachten, sie lässt ihr alle Empfindungen, von der seligsten bis zur tödlichsten, durchkosten, schafft ihr einen Reichthum, den sie vorher kaum geahnt, denn die Liebe ist ja die Lehrmeisterin der Frauen.

Diesen Muth der Liebe bewährt das schwache Mädchen glänzend dem tückischen Bruder Karl’s gegenüber, dem sie, obwol er ihr Schicksal in seiner Hand hat, doch ihre Verachtung überall bezeigt, ja ihm, da er sie mit seinen Liebkosungen verfolgt, den Degen entreisst und den Feigen in die Flucht schlägt. Dieser Zug ist um so richtiger, als er uns auch die wilde Glut des kalten Franz für sie erklärlicher macht, da eine entschlossene Frau einen ganz besondern Reiz für einen feigen Wüstling haben muss; ein schwaches Weib würde Franz rücksichtslos misbrauchen und zertreten. Jetzt kann er blos ihr Herz zerreissen durch die Nachricht von Karl’s Tode, die ihr der selbst von Franz hintergangene und lediglich als Werkzeug gebrauchte Hermann bringt; – ihre Treue erschüttern kann der reiche Graf nicht, diese wird erst in die seltsamste Verwirrung gebracht, als ihr der Geliebte nach jahrelanger Trennung in der Verkleidung als Fremder erscheint und sofort ihre Neigung wieder gefangen nimmt, da seine Erscheinung ihr die ganze wonnevolle Zeit ihres Zusammenseins mit Karl vor die Seele ruft.

In dieser Scene hat sie uns der Künstler gezeigt, wie sie den Fremden in der Ahnengalerie herumführt, versunken in schmerzliche Erinnerung an alte Seligkeit, die sich jetzt mit der Gegenwart

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Friedrich Pecht: Schiller-Galerie. F. A. Brockhaus, Leipzig 1859, Seite 26. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller-Galerie.pdf/51&oldid=- (Version vom 1.8.2018)