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und würden vielen Dank verdienen, wenn Sie uns gleich, da wir eben in der rechten Stimmung beysammen sind, eine solche Geschichte vortrügen, wir würden aufmerksam zuhören und Ihnen dankbar seyn.

Ohne sich lange bitten zu lassen, fing der Geistliche darauf mit folgenden Worten an:

Als ich mich in Neapel aufhielt, begegnete daselbst eine Geschichte, die großes Aufsehen erregte, und worüber die Urtheile sehr verschieden waren. Die einen behaupteten, sie sey völlig ersonnen, die andern, sie sey wahr, aber es stecke ein Betrug dahinter. Diese Parthey war wieder unter einander selbst uneinig; sie stritten wer dabey betrogen haben könnte; andere dagegen behaupteten: es sey keinesweges ausgemacht, daß geistige Naturen nicht sollten auf Elemente und Körper wirken können, und man müsse nicht jede wunderbare Begebenheit ausschließlich entweder für Lüge oder Trug erklären. Nun zur Geschichte selbst.

Eine Sängerin, Antonelli genannt, war zu meiner Zeit der Liebling des neapolitanischen Publikums. In der Blüthe ihrer Jahre, ihrer Figur, ihrer Talente fehlte ihr nichts, wodurch ein Frauenzimmer die Menge reitzt und lockt, und eine kleine Anzahl Freunde entzückt und glücklich macht. Sie war nicht unempfindlich gegen Lob und Liebe; allein von Natur mäßig und verständig wußte sie die Freuden zu genießen, die beyde gewähren, ohne daß sie dabey aus der Fassung kam, die ihr in ihrer Lage so nöthig war. Alle jungen, vornehmen, reichen Leute drängten sich zu ihr, nur wenige nahm sie auf, und

Empfohlene Zitierweise:
Johann Wolfgang von Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Die Horen 1795, Band 1–4. Cotta, Tübingen 1795, Seite 2-2. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller_Die_Horen_1-1795.pdf/118&oldid=- (Version vom 1.8.2018)